Le-Grau-du-Roi, September 2022
Manchmal fehlt mir das Meeresrauschen, das Möwengeschrei. Der salzige Geschmack auf den Lippen. Von Hamburg aus war es nicht weit bis zur Ostsee oder bis nach Sankt-Peter-Ording. Aber auch von der Provence aus ist das Meer eigentlich nur ein Steinwurf entfernt. Unser Ziel dieses Mal: Le Grau-du-Roi am Mittelmeer.
Le Grau-du-Roi, das klingt ein wenig sperrig. Grau ist das okzitanische Wort für Mündung oder Kanal. Heinrich IV. ließ den „Kanal des Königs“, die Verbindung von der Festungsstadt Aigues-Mortes zum Mittelmeer, 1598 als erster befestigen. Später siedelten sich vor allem italienische Migranten in dem kleinen Fischerort an. Le-Grau-du-Roi ist das Tor zur Camargue, gehört aber schon nicht mehr zur Provence, sondern zum Departement Gard in Okzitanien.
Der provenzalische Himmel ist wolkenlos blau, als wir aufbrechen, doch schon hinter Nîmes türmen sich die Wolken am Horizont. Die Landschaft wird hügeliger, dann karger. Spanisch sehen die weißen Farmen aus, es gibt unzählige Reitställe mit weißen Camargue-Pferden, die über die Zäune schauen. Le Grau-du-Roi liegt im Mündungsgebiet des Vedourle und ist von vielen Wasserläufen durchzogen. Die Landschaft ist weit und in glitzerndes Wasser getaucht, in denen wilde Flamingos ihre Tupfer setzen.
Unser Ziel ist die Landspitze Espiguette: Dort, hinter dem quadratischen Leuchtturm, dem Phare de l’Espiguette, beginnt eine einzigartige Dünenlandschaft. Zehn Kilometer lang, mit einem breiten, rund 700 Meter langen Strand. Feinster weißer Sand und hohe Dünen. Der Strand steht unter Naturschutz. Ich muss Sylt denken! Kein Wunder, dass viele „Espiguette“ einfach nur mit „Traumstrand“ übersetzten.
Auf dem unbefestigten Parkplatz hinter dem Leuchtturm stehen viele Autos mit deutschen Kennzeichen. Doch als wir an diesem Septembermorgen den Strandaufgang hinaufmarschieren, sehen wir schnell: Diesen herrlichen Strand teilen wir mit einer überschaubaren Menge an Menschen. Die Sonne hatte trotz der Wolken, hinter denen sie sich verbirgt, genügend Kraft, um den feinen Sand aufzuheizen. Angenehme 27 Grad warm ist die Luft und das Mittelmeer nicht kalt. So haben wir uns das vorgestellt: schwimmen, das Picknick auspacken, dem Meer zuprosten.
Auf dem Weg zurück nach Le Grau-du-Roi machen wir einen Zwischenstopp: Von einem Beobachtungshäuschen am Straßenrand kann man die Flamingos im Wasser aus nächster Nähe beobachten. Vor dem Fischerdorf selbst herrscht Betriebsamkeit, die Autos parken schon am Ortseingang rechts und links der Straße. Denn was wir nicht wussten: Wir sind in der Patronats-Festwoche gekommen. Und dazu gehörte der Stierkampf in der Arena. Und der ist gratis.
Es ist das erste Mal, dass wir einen Stierkampf sehen. In der Camargue ist er immer unblutig, nach Art der Camargue, ein „cours camarguaise“. Dem Stier geht es dabei zwar an die Hörner, aber eher auf spielerische Art. In Südfrankreich ist das ein Berufssport, der sogar zum immateriellen Kulturerbe Frankreichs zählt. Ob der Stier das auch so sieht, sei mal dahingestellt.
Im Prinzip geht es dabei stets darum, dass die weiß gekleideten Sportler – die „raseteurs“ (von raser: streifen) – den Stieren Trophäen von den Hörner herunterziehen. Wir kommen gerade rechtzeitig zur musikalischen Eröffnung. Dann wird der erste Stier in die Arena gelassen. Acht Jahre alt ist er. Zunächst hat er ein wenig Zeit, sich zu orientieren, er schnaubt und scharrt mit den Hufen.
Nach einer Fanfare beginnt das „Spiel“: Die raseteurs, die Stierstreifer, laufen auf ihn zu und animieren ihn, um ihn dann im Lauf zu streifen. Die jungen Männer sind äußerst geschickt und mutig, mit leichten, eleganten Sprüngen schwingen sie sich über die Holzbrüstung der Arena, um sich vor dem nachsetzenden Stier in Sicherheit zu bringen. Sogar an den Seitenwänden hangeln sie sich hoch, denn sie wissen aus Erfahrung, dass so mancher Stier den Läufern schon mal über den Umlauf hinterherspringen kann. Währenddessen verkündet der Stadionsprecher laut, welche Spender das Preisgeld weiter erhöht haben.
Brot und Spiele… Dies ist ein Spektakel, das – auch wenn es unblutig ist - uns an die antiken Kämpfe der Gladiatoren, der Menschen, der Tiere, denken lässt. Jedenfalls fühlt es sich nicht gut an. Dann schauen wir uns doch lieber noch Le-Grau-du-Roi an.
Der kleine Badeort hat mit rund 5000 Anlegeplätzen im Port Camargue einen der größten Jachthafen Europas. Und darum herum reihen sich riesige Ferienanlagen aneinander. Mitten durch den historischen Kern verläuft der Canal du Rhône à Sète, der die beiden Ortsteile in das linke und das rechte Ufer teilt. Vor allem auf der linken Kanalseite herrscht lebhafter Trubel in den vielen Restaurants und kleinen Geschäfte. Beide Ortsteile sind über eine Drehbrücke verbunden, die sich öffnet, wenn ab 17 Uhr die alten Fischkutter mit ihrem Fang wieder in den Hafen einlaufen. Malerisch leuchtet der alte Leuchtturm auf der Mole über den Ort, und dennoch: Irgendwie sieht alles ein wenig heruntergekommen und verwohnt aus.
Auf dem Rückweg Richtung Nîmes sehen wir wieder Flamingos im Wasser stehen und viele schwarze Stiere, die in ihren Herden – den Manaden – auf den endlos grünen Weiden grasen. Und in einem Führer lese ich dann, dass die Stiere in der Camargue die einzigen Tiere sind, die ohne Dressur und Zwang auftreten. Manche werden berühmt und werden verehrt, mehr noch als die raseteurs. Jeder Stier läuft eine Viertelstunde pro Rennen und keiner mehr als einmal im Monat. Die übrige Zeit leben sie frei, und die meisten sterben mit über 20 Jahren an Altersschwäche. Das versöhnt uns im Nachhinein noch einmal mit dem Anblick in der Arena, auch wenn wir ja tatsächlich nur die eine Seite dieser Geschichte kennen.