L'Isle sur la Sorgue, August 2022

 

Den ganzen Tag schimpfen die Spatzen um unser Haus herum. Jedes Mal, wenn ich mich nähere, flattern sie mit großem Geschrei aus der Baumkrone empor. Früher hätte ich gar nicht weiter darauf geachtet. Aber seit ein paar Tagen beobachte ich die Vogelschar ganz genau. Vielleicht ist einer dabei, der mir ganz vertraut ist und der uns mal anvertraut war?

Klausi haben wir ihn genannt, auch Kläuschen (warum fallen einem im ersten Moment immer nur so alte deutsche Namen ein?!). Er zog an einem Abend Anfang Juli in unser Leben. Die Nachbarin kam vorbei. Sie öffnete vorsichtig ihre Hände und hielt uns ein kleines Büschel mit einem breiten Schnabel entgegen. Ein hilfloses Etwas, schon mit einigen dunklen Federn, das Blut pulsierte unter der blanken Haut. Die Augen waren noch geschlossen. Ein Vogeljunges. Sie habe es auf dem Weg gefunden, sagte die Nachbarin. Ist wohl aus dem Nest gefallen. „Ich konnte es da ja nicht liegen und sterben lassen!“ Dumm nur, dass sie am nächsten Morgen für einige Tage verreiste und gar keine Zeit hatte, sich um diesen Vogel zu kümmern. Aber wofür hat man Nachbarn?

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Dumm nur, dass wir in diesem Moment eigentlich auch keine Zeit hatten. Wir waren auf dem Sprung zu Freunden, zum Essen. Bringt ihn einfach mit und nehmt etwas Hundefutter mit, schlug die Freundin vor. Wir legten das kleine Bündel in eine kleine Schachtel, packten etwas Hundefutter aus der Dose und eine Pinzette ein - und der kleine Vogel unternahm seine erste Autofahrt. Bei den Freunden erhielt das Vogeljunge seine erste Fütterung. Das Hundefutter aus der Dose – „reines Protein“, sagte die Freundin - schien ihm zu schmecken, immer wieder sperrte er sein breites Schnäbelchen auf, bis er endlich Ruhe gab. Das Schauspiel wiederholte sich mehrmals an diesem Abend.

Kläuschen übernachtete in der Schachtel unter einem Handtuch auf unserem Küchentisch. Am nächsten Morgen war es ganz still in der Küche, als wir vorsichtig das Handtuch hoben. Ich war mir eigentlich sicher, dass der Familienzuwachs diese Nacht nicht überlebt hatte. Doch in dem Moment, in dem das Sonnenlicht in die Schachtel fiel, erklang ein schrilles Piepen und wir blickten in den geöffneten Schnabel. Ok, jetzt wurde es also ernst. Der kleine Vogel hatte sich entschlossen, bei uns einzuziehen und nun mussten wir ihm Starthilfe ins Leben leisten. Und Hundefutter konnte da natürlich nicht die dauerhafte Lösung sein.

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Was frisst ein Vogelbaby? Eine kleine Schwalbe? Denn dass es eine Schwalbe oder ein Mauersegler war, davon waren wir erst einmal überzeugt, wo doch die Schwalben den ganzen Tag über ihre Flugkünste über unserem Haus vollführten und überall ihre Nester gebaut haben. Wir googelten im Internet und waren ratlos: Schwalben brauchen in den ersten beiden Wochen nur Insekten. Am besten lebend. Und wo bekommt man die, wenn man nicht gerade den ganzen Tag im Garten auf Jagd gehen kann? Im örtlichen Tierfuttergeschäft jedenfalls nicht: Dort drückte uns der Fachberater nur ein Insektentrockenfutter in die Hand. Könne man mit Wasser zu einem Brei verrühren, riet er, das sei sehr bewährt in der Vogelaufzucht. Im Fachgeschäft für Jagd und Fischerei öffnete der Verkäufer den Kühlschrank und holte eine Schachtel mit lebenden Mehlwürmern heraus. Und schließlich fanden wir nach langer Suche in einer Zoohandlung Heimchen. Lebendige Grillen! Sie krabbelten in einer Klarsichtbox übereinander.

Wir stellten sie ins Wohnzimmer, von wo aus es nun den ganzen Tag zirpte. Und in unserem Kühlschrank kringelten sich die Mehlwürmer in der durchsichtigen Schachtel. Auf dem Schneidebrett lagen tote Grillen, denen wir fachgerecht den Kopf und die sperrigen Beine abgeschnitten hatten. Für besondere Erfolgserlebnisse sorgten die Fliegen, die wir mit der Fliegenklatsche ins Jenseits befördert hatten, und die niedlichen Grashüpfer, die ich im Garten fing. Um ehrlich zu sein: All das kostete Überwindung und war mehr als gewöhnungsbedürftig! Doch jede Stunde schauten wir wieder in den weit geöffneten Schnabel, der gefüllt werden wollte. Dann begannen auch noch die Grillen, sich gegenseitig aufzufressen, und sie wurden immer magerer. Wir froren sie deshalb ein und tauten nun jeden Morgen einige von ihnen auf.

Gute Tipps zur Vogelaufzucht kamen von allen Seiten. Wenn Kläuschen wirklich eine Schwalbe oder ein Mauersegler sei, dürfe er auf keinen Fall Mehlwürmer fressen, warnte eine Freundin, denn sonst seien schwere Leberschäden vorprogrammiert! Verrückt, da will man alles richtigmachen, und dann macht man es vielleicht unwissentlich noch schlimmer? Wir googelten im Internet, verglichen Fotos, lasen die Infos der Wildvogelhilfe. Und waren erleichtert: Unser Klausi war gar kein Mauersegler, sondern ein Spatz. Sein kegelförmiger Schnabel verriet ihn. Denn Spatzen sind Körnerfresser, und dafür haben sie einen breiten und kräftigen Schnabel, während der Schnabel der reinen Insektenfresser, zu denen Schwalben und Mauersegler gehören, spitz und lang wie eine Pinzette ist.

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Mit etwa vier Tagen war der kleine Spatz nach unseren Schätzungen zu uns gekommen. Und er entwickelte sich großartig. Die Federn wuchsen, seine Beine wurden kräftiger und schon bald hüpfte er in seinem Vogelkasten fröhlich herum. Die Futterabstände wurden größer, nur noch alle zwei Stunden rief er nach uns. Wenn sein Hunger gestillt war, liebte er es wiederum, sich in die hohle Hand zu kuscheln, und dort schief er dann ganz entspannt ein. Schon nach einer Woche flatterte er aufgeregt und versuchte, über den Kastenrand zu springen. Ein größerer Käfig wurde eingerichtet. Wir stellten einen Ast hinein, wechselten die weichen Küchenrollen gegen Stroh. Und wenn wir den Kasten mit in den Garten nahmen oder das Vogelkind auf den Gartentisch setzen, kommunizierte er mit den Spatzen, die ihm aus den Bäumen antworteten.

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Im Internet fand ich eine Geschichte über einen Spatz, der aus dem Nest gefallen war und der, nachdem er in die Freiheit entlassen worden war, seine Gasteltern über vier Jahre lang jeden Tag besuchte. Vier Jahre! Für Spatzen ein großartiges Alter. Wenn Klausi sich bei seinen Flugübungen in der Garage auf meinem Finger festkrallte, malte ich mir schon aus, wie er künftig täglich bei uns vorbeischauen könnte, wie er in einer Schüssel auf der Terrasse ein Wasserbad nehmen und auf unsere ausgetreckte Hand springen würde.

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Er war etwa drei Wochen alt, wir hatten schon Flugstunden mit ihm absolviert und er hatte schon begonnen, selbstständig zu fressen und die Körner zu picken, die wir ihm hinstellten, als er für sich den Moment des Abschieds sah. Er nutze eine kleine Unachtsamkeit, um sich auf und davon zu machen. Schon den ganzen Tag über hatten die Spatzen draußen gelärmt. In dem Moment, in dem er mit großem Speed an uns vorbei aus einem geöffneten Türspalt in den Himmel flog, erhob sich der Spatzenschwarm, und innerhalb von Sekunden war Kläuschen ein Spatz von vielen, die sich in die Lüfte erhoben und davonstoben. Wir hatten nicht mal Zeit, um Tschüss zu sagen. Für ihn war es der richtige Moment. Und genau das hatten wir ihm ja gewünscht. Wir hoffen, dass er jetzt Familienanschluss hat.

Der kleine Spatz hat uns bisher nicht wieder besucht. Aber ich bin sicher, er sitzt in einem der Bäume rund um den Garten, in denen die Spatzen immer laut schimpfen. Und ich stelle mir vor, dass er uns beobachtet. Ich wünsche ihm sehr, dass er ein langes, wunderbares Spatzenleben hat.

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