L'Isle sur la Sorgue, Juni 2022
Die Geschichte der Juden in der Provence, das ist ein besonderes Kapitel. Eines, das in L’Isle sur la Sorgue derzeit besonders intensiv erforscht wird. In der Stadt fanden dazu nun auch Ausgrabungen statt. Und damit die Menschen an dieser Geschichte teilhaben können, werden regelmäßig Führungen über die Ausgrabungsstätte angeboten. Es geht um die alte Synagoge von L’Isle sur la Sorgue.
Und die stand früher mitten im Ort. Gleich um die Ecke von einer der beiden Einkaufs-Hauptgassen. Ecurie Abraham, in großen Lettern ist an einer Häuserwand noch heute zu lesen, was dort zu anderen Zeiten stand – der Pferdestall von Abraham. Schon vor einem Jahr haben die Archäologen Ausgrabungen in der benachbarten ehemaligen Remise begonnen. Schon in geringer Tiefe zeigten sich interessante Bodenstrukturen. Zum Beispiel ein Steinrund mit einem Durchmesser von 2,50 Meter. Innen sind die Steine orange verfärbt: Sie waren offensichtlich hohen Temperaturen ausgesetzt, im 18. Jahrhundert muss dort ein Backofen gebrannt haben, erklärt die Historikerin Florence Bombanel, die sich in L’Isle sur la Sorgue um das historische Kulturerbe kümmert. Und so liege die Schlussfolgerung nahe, dass in dem Backofen früher für die jüdische Bevölkerung Matze gebacken wurde, das ungesäuerte Brot, das fromme Juden zum Pessachfest essen. Unter der Kelle der Ausgräber ließ sich zudem das Ausmaß einen kleinen Hofes mit einem Brunnen erkennen.
Unsere Führung begann jedoch eine Ecke weiter, auf dem freien Platz, der Place de la Juiverie“ (Platz des jüdischen Viertels) heißt und heute von parkenden Autos umstellt ist. Dort lebten bis zur Französischen Revolution die jüdischen Bewohner von L’Isle in einem – ja, man kann es wohl so nennen – Ghetto. In einem eigenen Wohnviertel. Und dass dort überhaupt Juden leben durften, hat auch mit der besonderen Geschichte von L’Isle sur la Sorgue zu tun: Der Ort unterstand, ebenso wie Avignon, Cavaillon, Carpentras und die ganze frühere Grafschaft Venaissin, seit dem 13. Jahrhundert dem Papst, nicht dem französischen König. Erst mit der Französischen Revolution fiel die Region an Frankreich. Bis dahin aber galten in der päpstlichen Enklave andere Regeln und Gesetze. Und während in Frankreich wie in vielen europäischen Ländern die Juden im 12. bis 14. Jahrhundert verfolgt und vertrieben wurden, gewährte ihnen der Papst in seinem Kirchenstaat einen gewissen Schutz. Immerhin war ja auch Jesus ein Jude gewesen, wenn auch die Juden als seine Mörder galten.
Im 15. Jahrhundert verschärfte die päpstliche Kurie die Vorschriften für die jüdischen Gemeinden in der Grafschaft. Um die „Juden des Papstes“ von den Christen zu trennen, wurden sie gezwungen, in einer einzigen Straße zu leben, die nachts abgesperrt wurde: dem Judenviertel, auf Provenzalisch carreria. Ich kann es mir heute nur schwer vorstellen: Der lichte, von Bäumen umstandene Platz war früher das Zentrum des kleinen jüdischen Wohnquartiers. Das ganze Quartier umfasste etwa einen Hektar. Nur eine Straße führte hindurch, die Tore an beiden Seiten wurden abends fest verschlossen. Die vier- bis fünfgeschossigen Häuser waren schmal, die Räume klein – Florence Bombanel kann die Drangsal der Bewohner, die Enge und Gedrängtheit gut mit Worten ausmalen. Auch die Dunkelheit, die früher dort geherrscht haben muss: Nach außen hin, Richtung Stadt, durften die Häuser keine Fenster besitzen. Später wurden weitere Restriktionen verhängt, um den Umgang zwischen Christen und Juden zu erschweren. Juden, die ihr Viertel verlassen wollten, mussten Erkennungszeichen tragen, einen gelben Ring an die Kleidung heften, Männer einen gelben Hut aufsetzen.
Erst mit der Französischen Revolution wurden die Juden gleichberechtig und erhielten ihre Bürgerrechte. Von diesem Zeitpunkt an verließen die Bewohner ihr Ghetto, die jüdische Gemeinde von L’Isle sur la Sorgue zerschlug sich. Lebten bis 1789 rund 63 Familien mit 300 Menschen im Ghetto, umfasste die Gemeinde 1808 nur noch 22 Menschen.
Dass das Leben der Juden in der Provence nun verstärkt erforscht wird, liegt auch an den Ausgrabungen. Zwei alte Häuser haben sich aus dem ehemaligen jüdischen Viertel erhalten und werden inzwischen restauriert.
Der alte jüdische Friedhof vor den Toren der Stadt ist ebenfalls noch erhalten und wird wissenschaftlich untersucht. Und weil die ersten Grabungen im ehemaligen jüdischen Viertel so klare Ergebnisse erbrachten, fühlten sich die Forscher zu einer erneuten Grabung ermutigt, die nun Anfang dieses Jahres auf der Fläche vor der Remise stattfand. Dort erwiesen sich die Mauerreste im Boden als deutlich jünger und lassen so die Ausmaße der alten Synagoge, 1523 erbaut, erkennen. Zwölf mal zwölf Meter groß war sie. Die Synagoge bestand aus zwei Etagen, einem unteren Saal, in dem die Frauen zusammenkamen, und einer oberen Etage als Versammlungsraum der Männer. Dieser war, im Gegensatz zum unteren Saal, reich dekoriert. Eine Glasscherbe könnte von einem Kronleuchter übriggeblieben sein. Auch die Reste eines zweiten Backofens entdeckten die Ausgräber.
Während der Französischen Revolution wurde die Synagoge schwer beschädigt und 1856 endgültig zerstört. Nur ein schmiedeeisernes Geländer ist erhalten geblieben, es ist heute in der Stiftskirche um die Ecke zu sehen. Nun liegen die Mauerfundamente offen zutage, ein Absperrband flattert im Wind. In der leuchtenden Nachmittagssonne ist es ein seltsames Gefühl, sich in der beschaulichen Idylle der provenzalischen Kleinstadt diese dunkle Seite der Geschichte zu vergegenwärtigen. Aber ist es Vergangenheit? Wie soll August Bebel gesagt haben? Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten…