An den Dolmen in Ménebes und Goult, März 2022

 

Wer sind wir? Und wo? Wer fragt sich das nicht, wenn er in den unendlichen nächtlichen Sternenhimmel blickt. Wir alle sind aus Sternenstaub, so lautet wohl eine Antwort der Wissenschaft darauf. Kein einziger Baustein im Universum geht verloren. Leben geschieht in einem ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens. Die Erde - ist sie nicht ein einziger großer Sedimenthaufen, auf dem wir, Ameisen gleich, gerade auf der obersten Schicht herumkraxeln? Manchmal stolpert man unverhofft über einen Stein, ein Erdloch, und kann unverhofft eine Zeitreise unternehmen. So wie an dem Sonntag, an dem wir an einem Großsteingrab vorbeikamen.

Hätte nicht das Schild am Straßenrand gestanden, wären wir achtlos weitergefahren. „Dolmen de la Pitchoune“ stand auf dem Schild an der D3 östlich von Ménerbes, wir hielten auf dem Seitenstreifen an und liefen zurück. Der Anblick war enttäuschend. Eher wie ein übergroßer Gully: ein großer Deckstein, ein Eingang, kaum einsehbar. Es lag wohl an der misslichen Lage direkt neben der Straße und dem Brückenrund. Mir fehlte die Phantasie, um mir vorzustellen, wie Menschen dort einst ihre Toten bestattet haben. Eine Informationstafel gab es nicht, so klärte uns ein Blick ins Internet über die Geschichte dieses rätselhaften Zeitzeugnisses auf.

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Mitte des 19. Jahrhunderts war der Dolmen von einem Bauern entdeckt worden. Er leerte die Grabkammer und nutzte sie als Kartoffellager, bis der damalige Pfarrer von Ménerbes ihn eines Besseren belehrte und den Fund bei der Archäologischen Gesellschaft meldete. Dort sorgte die Entdeckung wohl nicht für große Aufregung; der Dolmen geriet in Vergessenheit, bis ihn 1909 ein Amateurarchäologe wiederentdeckte. Er grub auch einige Knochenfragmente und Steinwerkzeuge aus, weitere Knochenreste, Zähne, Feuersteine, Pfeile und Keramikscherben entdeckten Archäologen im näheren und weiteren Umfeld bei Grabungen 1972. Genug Material, um das Alter der Grabstätte zu bestimmen. Die Grabkammer wurde in der Jungsteinzeit, 2000 bis 3000 v.Chr., belegt. Das ist immerhin beeindruckend!

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Ungewöhnlich für die Provence ist der Dolmen auf jeden Fall: Es gibt nur drei im näheren Umfeld. Der zweite liegt gerade mal ein paar Kilometer weit entfernt, bei Goult. Eine gute Gelegenheit, sich ein zweites Großsteingrab anzusehen. Nach etwas Sucherei standen wir vor dem Dolmen de l’Ubac, der etwas abseits des Weilers Lumières am Ufer des Calavon-Flusses zu finden ist. Ein vielbefahrener Radweg führt direkt daran entlang, weshalb auch vor dem Dolmen reger Publikumsverkehr herrschte. Ein Vater hatte mit seinen zwei Söhnen die Räder zur Seite gestellt und studierte die ausführliche Info-Tafel. Er drehte sich zu uns um, als wir den Dolmen erreichten. „Wahnsinn, 3500 vor Christus!“, der Mann pfiff hörbar durch seine Zähne und umkreiste mit seinen Söhnen staunend das Areal.

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Was den Dolmen von Ubac für die Wissenschaft so aufregend macht: Er ist ausgezeichnet erhalten, denn er lag viele Jahrtausende unter dem konservierenden Schlamm des kleinen Flüsschens. Bei einer besonders starken Überschwemmung 1994 wurde der mit Steinen belegte Grabhügel entdeckt. 14 Meter Durchmesser misst der Hügel, die flache Kuppel erhebt sich jedoch nur einen Meter über dem umliegenden Gelände.

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Die Grabkammer darunter ist über einen kurzen Eingang erreichbar. Die Spuren menschlicher Bestattungen, dazu Fragmente von Pfeilen, Perlen, Tierknochen, Feuersteinen, Keramikscherben und Steinwerkzeug fanden sich in zwei Schichten: In der unteren waren mindestens 15 Menschen, davon vier Kinder, begraben, in der oberen 33 Menschen, davon elf Kinder. Die ersten Toten wurden um 3300 v.Chr. in die Kammer gelegt; noch älter datierte Keramikscherben lassen darauf schließen, dass der Ort schon zuvor als Bestattungsplatz diente. Die letzten Bestattungen fanden um 2600 v.Chr. statt. Danach wurde der Dolmen langsam unter dem Schlamm des Calavon begraben, die konservierenden Ablagerungen rieselten durch die Steindecke und bedeckten den Inhalt der Grabkammer – und die Toten hatten bis 1994 ihre Ruhe. Danach wurde es extrem unruhig: Da der Calavon immer wieder über seine Ufer tritt und die Überschwemmungen dem Grabhügel zusetzten, wurde der Dolmen Stein für Stein 2014 um 500 Meter an einem sicheren Uferplatz verlegt.

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An diesem sonnigen Nachmittag erhellte die Sonne den Eingang des Megaliths. Die Kammer dahinter lag im Dunkeln – ebenso wie die Geschichte des Dolmens. Wie haben die Frauen und Männer gelebt, die diese Steine einst in die Hand nahmen und verlegten, die dort bestattet wurden? Auf jeden Fall haben sie ihre Toten würdevoll behandelt und über ein Leben nach dem Tod nachgedacht - ja, wohl auch daran geglaubt. Menschen, die vor rund 5500 Jahren gelebt haben! Deren Herz genauso schlug wie das unsere heute, die Hunger hatten, die Tiere töteten und sie aßen, sich liebten, Angst hatten, vielleicht schon Krieg führten. Die sich Perlen umhängten und sich damit schöner fanden. Die in die Sonne schauten und in den Nachhimmel und über ihre Welt nachdachten. Genauso wie wir heute. Wir lieben uns und haben Angst, führen Krieg, hadern mit Gott und vergessen manchmal, dass die Welt sich nicht nur um uns dreht. Was sind da schon ein paar Tausend Jahre…

Wir haben uns vorgenommen, im Sommer wiederzukommen und dort, neben dem Dolmen am idyllischen Ufer des Calavon, zu picknicken.

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