L'Isle sur la Sorgue, Januar 2022
Jeden Morgen müssten wir ihm eigentlich begegnen, dem typischen Franzosen. Er trägt eine Baskenmütze, die Gauloise im Mundwinkel und das Baguette unter dem Arm. Es lebe das Klischee! Die Wirklichkeit sieht anders aus. Das Barett ist heute fast nur noch auf Touristenköpfen oder in Karikaturen zu sehen, die meisten Mützen werden in China gefertigt und von Frankreich aus dann ins Ausland verkauft. Das Rauchen ist im ganzen Land inzwischen nahezu überall verboten. Und das Baguette? Das knusprige Nationalsymbol wird immer mehr von vollkörnigeren Konkurrenten und den Backautomaten der Supermärkte bedroht. Aber dennoch: Die bekannte Weißbrotstange bleibt ein französisches Heiligtum. Und wenn es nach der französischen Regierung geht, soll die UNESCO sie demnächst sogar zum französischen Weltkulterbe ausrufen.
Die lange Schlange vor der kleinen Bäckerei, die wir morgens oft ansteuern, spricht für sich. In Vor-Corona-Zeiten drängten sich die Menschen in dem engen Verkaufsraum vor der hölzernen Theke. Seit jedoch die Menschen auf Abstand bedacht sind, betritt ein Kunde nach dem anderen die Boulangerie. Und die anderen warten draußen. Das kann dauern, denn auch das ist eine französische Eigenart: Das tägliche Schwätzchen mit der Bäckerin muss sein, und davon lassen sich die Franzosen auch nicht von bohrenden Blicken in ihren Rücken beirren.
Die Bäckerei ist ein kuscheliger kleiner Raum. In den Regalen an der Wand stehen die Baguette in Reih und Glied. Es gibt die Baguette „traditionelle“, die Landbrote, die mit Vollkornmehl und die nach altem Rezept (à l’ancienne). Und innerhalt jeder Sparte gibt es noch einen großen Unterscheidungsgrad: die Knusprigkeit der Kruste. Es gibt die sehr dunkel gebackenen, die hellen krossen und die nur ganz leicht angeknusperten Brote. Der Bäcker steht hinten, vor dem Ofen, eine weiße Schürze vor dem Bauch. Die Tür zur Backstube ist nie geschlossen, und so kann er von hinten den einen oder anderen Bekannten grüßen oder an den Gesprächen seiner Frau teilnehmen, während er den ganzen Tag über den Teig knetet.
Vorne auf dem Tresen ist das Feingebäck aufgereiht, die Kuchen der Saison, besondere Plätzchen. In einer Glasvitrine liegen Käse und Wurst, im Kühlschrank drehen sich kunstvoll gefertigte Kuchen. Im Regal dahinter stehen Weinflaschen aufgereiht. Brot, Käse, Rotwein - alles, was ein französisches Herz begehrt! Die Bäckerfrau ist immer fröhlich und begrüßt jeden Eintretenden mit einem herzliches „bonjour, ça va?“ Sie trägt ihre schwarzen Haare jugendlich in zwei geflochtenen Zöpfen, und um ihre Beine herum wuseln die drei kleinen Kinder. Gut gelaunt reicht sie die knusprige Brotstange über die Ladentheke, und manchmal ist der Brotlaib sogar noch warm. Was gibt es dann Schöneres, als gleich die Brotspitze abzubrechen – besser: einfach abzubeißen! Nicht alle Baguettes schaffen es heile nach Hause.
Wie ein gutes Baguette gefertigt werden muss, das hat die französische Regierung genau geregelt. Nur Weizenmehl und Wasser, Hefe oder Sauerteig und Salz darf in das rund 250 Gramm schwere Stangenbrot hinein, in geringem Maße auch einige Zusatzstoffe wie Bohnen- oder Sojamehl. In Paris wird seit 1994 per Wettbewerb jährlich der beste Bäcker fachkundig ermittelt: Der Sieger darf ein Jahr lang den französischen Präsidenten im Èlysée-Palast beliefern. Rund sechs Milliarden Baguettes gehen in Frankreich jährlich über die Ladentheke, etwa 100 pro Kopf. Das ist deutlich weniger als noch vor ein paar Jahren. Man bricht das Brot – es wird niemals geschnitten! - zum Frühstück und als Zutat zu jeder Mahlzeit. Mit einem Stück Baguette wird noch der letzte Rest des Essens vom Teller aufgewischt und genossen. Und manch älterer Franzosen verzieht sogar heute noch das Gesicht, wenn man das Brot mit der Kruste nach unten auf den Tisch legt. Das bringe Unglück, sind sie überzeugt. Der Aberglauben geht angeblich ins Mittelalter zurück, als öffentliche Hinrichtungen an der Tagesordnung waren und als Volksspektakel zum Markttag abgehalten wurden. Der Henker hingegen war allseits gefürchtet – es bedurfte deshalb eines königlichen Dekretes, damit die Bäcker ihn bedienten und ihm am Hinrichtungstag ein Baguette zur Seite legten. Um dieses Brot von den anderen zu unterscheiden, legten die Bäcker es stets falsch herum zur Seite – und alle Kunden sahen sich vor, um es ja nicht zu berühren.
Wie das Brot, so ist auch sein Preis ein nationales Thema. Bis 1986 gab es einen Höchstpreis für ein Baguette. Das maschinell gefertigte Baguette in den Supermärkten kostet heute mittlerweile 50 Cent, Bäckereien verlangen für ihr Brot in der Regel bis zu 90 Cent. Das richtig gut gebackene Baguette à la tradition, das der Bäcker noch mit eigener Hand fertigt, kostet meist einen Euro oder etwas mehr. Als die psychologische Marke von einem Euro 2008 erstmals aufgrund gestiegener Weizenpreise überschritten wurde, gab es noch Proteste in ganz Frankreich. In Zeiten von Corona und wiederum gestiegenen Rohstoffpreisen weltweit werden derzeit gerade wieder Brotpreiserhöhungen angekündigt. Für zusätzlichen Unmut sorgt in dieser Situation die Einzelhandelskette E.Leclerc, die im Dezember angekündigt hat, den Baguettepreis in ihren Supermärkten für die nächsten vier Monate auf 29 Cent einzufrieren. Man wolle so im Wirbel der Preiserhöhungen die Brot-„Institution“ schützen, heißt es in der Leclerc-Werbung. Die Konkurrenz wittert dagegen einen miesen PR-Trick zu Lasten der Produzenten. Es seien doch nur vorgebackene Brote, die der Handelsriese verkaufe, kritisiert ein Bäckermeister in der hiesigen Lokalzeitung. „Kein Vergleich mit unseren Broten.“
Umso mehr sieht sich das französische Kulturministerium gefordert, das Können und die Kultur des Baguettes zu schützen. Ein entsprechender Antrag, das Brot auf die Liste des immateriellen Kulturerbes zu setzen, wurde auf Initiative der französischen Bäckerinnung eingereicht. Für diesen Herbst wird die Entscheidung der UNESCO erwartet.