L'Isle sur la Sorgue, Dezember 2021

 

Dass Franzosen angeblich mehr Geld fürs Essen ausgeben als die Deutschen, gilt gemeinhin als „Savoir-vivre“, als die französische Lebenskunst. Während die Deutschen vorgeblich mehr Wert auf herausgeputzte Häuser und hochpolierte Autos legen, gilt der westliche Nachbar als Kenner und Genießer gehobener Lebensart. Eng damit verbunden ist das Laisser-faire, die Lässigkeit und Gelassenheit der Franzosen. Leben und leben lassen, heißt die Devise, ein jeder darf nach seiner Façon unbehelligt glücklich werden. Doch dazu passt eigentlich gar nicht die Vorstellung, dass sich Franzosen in ihren eigenen vier Wänden verschanzen. Und doch scheint es so. Denn wenn ich mich hier so umschaue, dann sehe ich vor allem eins: Mauern.

In Hamburg gibt es nichts Schöneres, als im Winter abends durch die Straßen zu laufen und in die hell erleuchteten Fenster zu blicken. Ina Müller hat das in ihrem Song „Wohnung gucken“ beschrieben: „Aber komm, lass uns Leuten in die Wohnung gucken gehen, bis zum Kinn in den Jacken vergraben.“ Spaß macht das vor allem bei den feinen Adressen, in Eppendorf, in Harvestehude, an der Isestraße, dort, wo an hohen Decken Kristallleuchter funkeln, schwere Wälzer die Regale füllen und prunkvolle Leuchter auf den Fensterbänken leuchten. Wenn man Glück hat, sieht man Menschen, manchmal kochen sie, sie sitzen an langen Tischen, allein, zu zweit, zu vielen. Oft schimmert ein bläuliches Licht hinaus, weil irgendwo ein Fernseher läuft. Die lichtvollen Fenster, sie sind wie eine Einladung ins Innere – und wie ein Blick in die Seelen der Menschen, die dort wohnen.

Natürlich ist nicht überall Hamburg. Ich erinnere mich noch gut an meine Kindheit in einem Dorf und an das Geräusch der Rolladen, die überall, kaum dass es dunkel wurde, hinabgelassen wurden. Es gibt Regionen, in denen die Häuser ganz abgewandt von der Straße sind, das Leben spielt in den Hinterhöfen statt, zu denen nur ein großes Tor führt. Ich habe mal gelesen, dass diese Bauweise immer noch die Erfahrung der Kriege vergangener Zeiten spiegelt, vor allem des Dreißigjährigen Krieges - die unbewusste kollektive Angst der Menschen vor marodierenden Soldaten, vor Gefahren, die über einen kommen können.

Vielleicht ist das nicht nur für deutsche Bauweisen eine Erklärung. In der Provence jedenfalls werden viele Mauern gebaut. Und sie werden nach meiner Beobachtung beständig erhöht. Auf vermörtelte Steinwände werden dann noch ein oder zwei Ziegelsteinschichten aufgesetzt, wenn neuere Gesetze es erlauben. Zwei Meter, 2,50 Meter – da kann kein Passant hinüberschauen. Schön sieht das nicht unbedingt aus. Ganz abgesehen davon, dass ich mich oft frage, was die Menschen da drinnen sehen, wenn sie aus ihren Fenstern gucken. An den schönsten Orten der Provence stehen wunderschöne Häuser, mit einem freien Blick auf die Berge der Umgebung, auf den schneebedeckten Mont Ventoux vielleicht. Ein jeder Ferienheimbesitzer würde sich über diesen Blick in die Landschaft freuen. Doch die Hausbewohner wählen lieber freiwillig den Blick auf das Bollwerk, das sie selbst errichtet haben.

Die vorgeschriebene Höhe einer Mauer kann von Gemeinde zu Gemeinde variieren. Wenn es keine gesetzlichen Regelungen gibt, gilt der Artikel 663 des Code civil: Dann darf eine Mauer in Gemeinden mit weniger als 50000 Einwohnern nicht 2,60 Meter überschreiten, bei Gemeinden mit mehr als 50000 Einwohnern sind es 3,20 Meter. 3,20! Ohne eine Mauer geht der Hausbau hier jedenfalls anscheinend gar nicht. Und es müssen schon blickdichte, feste Mauern sein, keine luftigen Drahtgestelle oder lockere Grünstreifen.

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Dass neuerdings sogar die Außenmauern zuerst gebaut werden, bevor noch die Fundamente für das neue Haus gegossen sind, können wir gerade auf unserer morgendlichen Gassirunde gleich um die Ecke bestaunen. Eine Nachbarin hat zudem gerade ihre riesige Zypressenhecke abgeholzt. Sie will an dieser Stelle nun Steine hochziehen. Das gäbe ein schützendes Gefühl, sagt sie und erzählt, dass sie kürzlich Wildschweine hinter ihrem Haus gesichtet habe.

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Verbindet sich also mit jeder Mauer nur das Gefühl von Schutz? Franzosen bleiben sehr gerne unter sich, in der Familie, lautet eine andere Erklärung, die ich für dieses Rätsel gefunden haben. Eine noch eine andere: Der Franzose misstraue dem Staat. Franzosen mauern sich ein, um der Steuerfahndung jeden Blick ins Innere zu verwehren. So verbieten die Bollwerke jeden neugierigen, spionierenden Blick von außen.

Und doch kommt es mir so vor, als würden neuerdings so viele Mauern wie nie gebaut oder erhöht. In einer Zeit, in der eine Pandemie die Länder weltweit in Angst und Schrecken versetzt. Vielleicht sind es tatsächlich die unbewussten Ängste, die sich so offenbaren – nicht mehr die Angst vor vagabundieren Söldnern oder Räubern, sondern vor einem unsichtbaren Feind, einem Virus, vor dem man sich dennoch schützen will. Also werden Mauern gebaut – in einer Welt, in der doch eigentlich die Hoffnung noch nicht gestorben ist, dass selbst unverrückbar geglaubte Mauern zwischen Völkern fallen können.

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