In Eygalières, November 2021

 

Eigentlich ist es von den Dörfern an der Sorgues nur ein Steinwurf weit bis zu den Alpilles. Doch es fühlt sich viel weiter an. Es gibt eine unsichtbare Grenze. Sie liegt gleich hinter Cavaillon, wenn man über die Durance und die Autobahn in Richtung St. Remy fährt. Plötzlich sieht alles anders aus. Statt saftig-grüner Landschaften mit Obstplantagen ist der Boden steinig und die Landschaft karg. Und mit jedem Kilometer wächst am Horizont die Bergkette aus Kalkstein, in deren Tälern die besten Oliven und die besten Weine des Südens wachsen. Noch vor St. Remy biegen wir ab, unser Ziel: das kleine Dörfchen Eygalières. Denn dort ist heute Markt.

Der Parkplatz ist fast leer. Im Sommer ist das bestimmt anders. Aber im Winter gehört der Platz den Einheimischen. An diesem kalten Novembertag allerdings wagen sich nur wenige Menschen hinaus. Der Mistral fegt mit kaltem Griff über das Land und die Menschen ziehen ihre Schals höher. Die Markthändler sind unverdrossen und fröhlich. 20 Stände sind unter den Platanen entlang der Straße vor dem Rathaus aufgebaut. Es gibt Gemüse und Obst, Pilze jeder Art, Honig, Olivenöl, Paëlla und Pullover und zwei Fischstände.

MarktEyg

Zu dieser frühen Stunde sind die Stühle vor den Restaurants und Bistros noch leer. In der Boulangerie Hache bestellen wir einen café au lait und ein Croissant und setzen uns vor die Tür, um das Marktgeschehen zu beobachten. Während der Dampf des heißen Kaffees aufsteigt, schiebt sich die Sonne noch milchig durch die Wolken. Ein plötzlicher starker Windstoß fegt die gelben Blätter vom Bürgersteig hoch und lässt sie über uns hinabsegeln. Herbst in der Provence!

Eygalières ist keines dieser Dörfer, die jeder Tourist unbedingt ansteuern muss. Vielleicht hat der Ort deshalb noch immer den eigenen Charme bewahrt. Das Dorf ist klein, die Steinhäuser alt und gepflegt. Ruinen überragen den Ort, und von ganz oben grüßt die Statue der Madonna herunter. Das ganze Ensemble wirkt so harmonisch und schön, dass es nicht verwundert, dass Eygalières immer wieder als Drehort für Filme, die in der Provence spielen, gewählt wird. Und dass viele nationale und internationale Prominente in der Gegend ein Haus besitzen sollen, der Rennfahrer Alain Proust zum Beispiel und der englische Schauspieler Hugh Grant.

Die Hauptstraße führt gerade hinauf zu den Ruinen des alten Dorfes. Der Weg hinauf auf den Felsgipfel ist steinig, doch er lohnt sich: Von dort oben hat man den schönsten Blick auf die Alpilles! Von der Burgruine, die dort einst die Landschaft überragte, sind nur einige Steinmauern geblieben. Vier Türme und ein Wohnturm aus dem 13. Jahrhundert gehörten einst zu dem Ensemble. Es bedarf viel Phantasie, sich vorzustellen, dass innerhalb dieser Mauern vor vielleicht 1000 Jahren Frauen, Männer und Kinder lebten, die an so einem kalten Novembertag das Feuer in ihrem Kamin schürten und über die weite Landschaft blickten mit dem Gefühl, auf dieser Höhe in Sicherheit zu sein.

Burgruine 

Auf den Resten des Wohnturms errichteten die Dorfbewohner 1893 die Statue der Jungfrau, nachdem dort ein Mädchen des Ortes bei einem Spaziergang eine Erscheinung gehabt haben soll. Seither steht das Dorf unter dem Schirm der Madonna. Gleich daneben auf dem Plateau stand einst die alte Kirche Saint-Laurent, 1153 erbaut, auch von ihr blieben nur ein paar Mauerreste. 1905 wurde die neue Gemeindekirche unten im Dorf gebaut.

EygaliereMadonna

Überragt wird die Ruinenlandschaft von dem Glockenturm, den die Dörfler 1672 aus den alten Steinen der Burg erbaut haben. Während der Revolution wurde er zerstört und später wiederaufgebaut. Etwas unterhalb lag die Kapelle der Büßer-Bruderschaft aus dem 17. Jahrhundert. Darin ist heute das Heimatmuseum untergebracht. Wir hätten gerne die archäologischen Fundstücke aus der Region gesehen, die dort ausgestellt werden, denn schon in der Bronzezeit lebten Menschen in den Höhlen der Umgebung und haben dort ihre Spuren hinterlassen. Doch im November ist das Heimatmuseum erst nachmittags geöffnet.

GlockenturmEyg

Stattdessen unternehmen wir auf der Rückfahrt noch einen kleinen Umweg. Nicht weit vor den Toren Eygalières seht die Kapelle Saint-Sixte. Die romanische Kapelle aus dem 12. Jahrhundert thront, eingerahmt von Zypressen und Mandelbäumen, auf einem kleinen felsigen Hügel – dieses Bild gilt als eines der Postkartenmotive schlechthin aus der Provence. Mich allerdings erinnert es eher an die Landschaft der Toskana. Durch den leeren Glockenturm pfeift schon seit langem der Wind, die Glocke wurde im Mittelalter geraubt. Damals soll ein Einsiedler neben der Kapelle gelebt haben.

Saint Sixte

Doch der Ort ist viel geschichtsträchtiger: Saint-Sixte steht auf einem alten Heiligtum, die Kapelle wurde um 1255 auf der Stelle eines römischen Tempels erbaut. Und schon seit 1222 ist die große Wallfahrt „Roumavage“ am Dienstag nach Ostern bezeugt. Sie wird in aller Tradition noch heute veranstaltet. Dann tragen zwei Männer eine Büste des Papstes und Heiligen Sixtus I. von der Kirche Saint-Laurent in Eygalières feierlich über die Landstraße bis zur Kapelle. Früher beteten die Menschen so in den Zeiten der Trockenheit um Regen. Tatsächlich soll es in der Nähe der Kapelle früher eine Quelle gegeben haben. Seit einigen Jahren wird die Prozession von berittenen Rinderhirten aus der Camargue und jungen Mädchen in der typischen historischen Tracht der Frauen aus Arles begleitet. Vor der Kapelle feiern die Gläubigen dann die Messe unter freiem Himmel, in provenzalischer Sprache, und zum Abschluss werden an alle Teilnehmer kleine Anisbrote verteilt, die für das kommende Jahr Gesundheit in jedes Haus bringen sollen.

Ein einsamer Ort. Und doch ein Ort, der auf die Besucher wirkt: Die Mauern der Kapelle sind mit Inschriften, Namen, Jahreszahlen und Herzen übersät. Wenn der Mistral nicht so kalt über die Ebene jagen würde, wäre dieser Ort auch ein schöner Platz für ein Picknick. Mit der Kapelle im Rücken liegen einem die Alpilles zu Füßen. Vielleicht sollten wir an einem wärmeren Tag noch einmal wiederkommen. Oder als Zaungäste am Dienstag nach Ostern…

 

 

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