In Gordes, Oktober 2021

 

Wenn es ein provenzalisches Bilderbuchdorf gibt, dann ist es Gordes. Quadratische, alte Häuser, eng an eng, Terrassen, dicke Mauern und mittendrin die Burg. Das Dorf schmiegt sich auf eine Felskuppe am Randes des Vaucluse. Von dort hat man einen weiten Blick über das Land, über Felder, Wiesen, Täler und Dörfer und auf das Luberon-Gebirge auf der anderen Talseite. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es hier nicht immer so malerisch und beschaulich zuging. Dass das mittelalterliche Dorf heute zu den schönsten und beliebtesten in ganz Frankreich gehört, hat auch mit vielen Künstlern zu tun. Allen voran vielleicht mit Victor Vasarely, der auch in Gordes lebte und arbeitete. Viele seiner Werke sind derzeit noch im Schloss zu besichtigen.

Den besten Blick auf Gordes hat man bei der Anfahrt. Die Straße ist gesäumt von hohen Trockenmauern rechts und links. In einer der letzten Kurven vor dem Ort öffnet sich der Blick. Für die Touristen hat man an dieser Stelle einen Aussichtspunkt eingerichtet, an dem sich im Sommer die Autos stauen, weil jeder von dort mit seinem Handy das schönste Postkartenmotiv machen möchte.

gordes

Das steinerne Dorf auf dem Berg. Die Bergkuppe wird gekrönt von der Burg. Von dort, vom höchsten Punkt hatten die ersten Herrscher über das Land schon vor 1000 Jahren den besten Blick, und dorthin flüchteten sich die Menschen in Zeiten der Bedrängnis. Aus der einfachen Wehrburg erbaute die Adelsfamilie der Simiane im 16. Jahrhundert ein Schloss im Renaissance-Stil. So hat das Bauwerk heute zwei Gesichter. An der Nordfassade präsentiert es sich als mittelalterliche Burg mit zwei Türmen, an der Südfassade dagegen als ein feudales Herrenhaus.

Doch die Herren der Burg von Gordes haben eigentlich nie richtig dort gelebt. Im 17. und 18. Jahrhundert zogen sie die Abgaben der Bauern ein und nutzten das Schloss als Gefängnis und Garnisons-Stützpunkt. Im Zuge der Revolution ging der Bau 1811 in den Besitz der Gemeinde über. Seither wurde das Schloss auf vielfache Weise genutzt: als Bürgermeisteramt, als Postamt, Café und Schulkantine, Filmvorführraum und Touristenbüro.

Vasarely

Dann kam in den 60er Jahren der Künstler Victor Vasarely (1906-1997) und entdeckte den Ort für sich. Er überredete die Gemeinde, ihm den verwohnten Bau zu überlassen – zum symbolischen Preis von einem Franc pro Jahr. Vasarely renovierte das Schloss nach und nach, gründete dort eine eigene Stiftung und eröffnete 1971 sein Didaktisches Museum, in dem er bis zu 500 seiner Originale ausstellte. Zur Eröffnung kam jede Menge hoher Besuch aus Paris, allen voran Madame Pompidou, Frankreichs damalige First Lady.

Das Museum gibt es längst nicht mehr, nach einer Insolvenz und Streitereien wurde es 1996 geschlossen, die Stiftung nach Aix-en-Provence verlegt. Dort steht heute das Museum, das Vasarelys Werken gewidmet ist. Doch in diesem Jahr ist das anders. Anlässlich des 50jährigen Bestehens der Vasarely-Stiftung gibt es auch in Gordes wieder eine große Ausstellung mit Originalwerken, riesigen Wollteppichen, Texten und Fotografien, die die Geschichte des Künstlers in der Provence nachzeichnen.

 VasarelyVega

Der Eingang zum Schloss befindet sich an der Renaissance-, der Südseite. Eine steinerne Wendeltreppe führt hinauf ins Obergeschoss. Dort, im großen Festsaal, zieht zunächst der monumentale Kamin von 1541 alle Blicke auf sich. Er verläuft über eine ganze Wandbreite. Eingerahmt wird er von zwei prächtig verzierten Türen. In den zwölf Nischen, die heute leer sind, standen früher die zwölf Apostel. Sie wurden im Sturm der Revolution 1789 ebenso wie die Christusstatue in der Mitte herausgerissen.

Daneben hängen die farbigen Bilder und Wandteppiche mit seltsamen Titel wie „Vega-Fell“ oder „Ondokto-JG“ auf den alten Mauern in einem interessanten Kontrast. Aus knalligen Netzmustern wölben sich je nach Blickwinkel die Linien nach vorne oder vertiefen sich. Kinetik nannte Vasarely diesen Effekt, der durch den Kontrast abgestufter Farbnuancen entstand. Vasarly ist ein Meister der optischen Täuschung und der Mitbegründer des Op-Art, der optischen Kunst - einer Kunstrichtung, die vor allem danach strebte, mit Linien und Formen zu spielen und so das menschliche Auge zu täuschen. Die psychedelisch bunten Bilder haben eine hypnotische Wirkung. Erst der Blick des Betrachters bringt die Kompositionen zum Leben. An anderer Stelle tritt plötzlich ein Zebra aus flimmernden schwarz-weißen Musterungen. Andere Bilder sind dagegen figürlich und schon fast bieder, die chinesischen Tuschezeichnungen zum Beispiel.

Chinese

Es waren die würfelförmigen Häuser von Gordes, die Victor Vasarely im hellen Licht der Provence-Sonne 1948 zum ersten Mal sah – und die ihn faszinierten. Die ihn inspirierten. Fortan verbrachte der gebürtige Ungar, der in Paris zunächst noch als Werbegraphiker arbeitete, die Sommermonate in der Provence. Heute werden seine Werke aus dieser Zeit der „Cristal“- oder auch „Gordes“-Periode zugerechnet.

Vasarely war aber nicht der einzige Künstler, der nach dem Zweiten Weltkrieg nach Gordes kam. In einen Ort wohlgemerkt, das damals noch kein Vorzeigedorf war. Im Gegenteil: Es war ein sterbendes Dorf. Viele der jungen Männer waren schon im Ersten Weltkrieg auf den Kriegsfeldern geblieben. Hungersnöte, Krankheiten und einige Erdbeben hatten bereits in den Jahrhunderten zuvor die Bevölkerungszahl reduziert, viele Einwohner zogen fort. Wo früher die Menschen als Seidenspinner, Färber, Seiler und Weber, als Hufschmiede und in Schusterwerkstätten mühselig ihren Lebensunterhalt verdienten, sorgte die industrielle Revolution für gewaltige Umwälzungen. Von einst 3000 Einwohnern lebten nach dem Ersten Weltkrieg nur noch 1000 in Gordes, viele Häuser standen leer und verfielen.

Es war auch der Charme und die Schönheit des Verfalls und die Einsamkeit, die fortan Künstler anlockte. Marc Chagall war einer von ihnen, er fand in Gordes Zuflucht vor den Nazis. Der kubistische Maler André Lhote, der Fotograf Willy Ronis, die Maler Serge Poliakoff, Jean-Jacques Deyrolle und Pol Mara kamen, um nur einige Namen zu nennen. Als Victor Vasarely 1971 sein Didaktisches Museum eröffnete, veränderte dieses Ereignis das Leben in Ort nachhaltig. Allein im ersten Jahr kamen über 40000 Besucher.

Wer heute durch die engen Gassen und über die steilen Treppen steigt, fühlt sich wie in einem Bilderbuch. Genau so stellt man sich die Provence vor! Der Hamburger Autorin Heike Koschyk, die ihre bekannten Provence-Krimis unter dem Namen Sophie Bonnet veröffentlicht, dient Gordes denn auch als Vorbild für ihre fiktiven Einsatzorte. Im richtigen Leben flanieren Touristen durch die kleinen Gässchen mit Kopfsteinpflaster. Boutiquen, Galerien, Souvenirläden und Töpfergeschäfte reihen sich aneinander, doch irgendetwas fehlt. Es gibt keine Kinder, die auf der Straße spielen, und keine Männer, die vor einem Tabac-Bistro ihren Kaffee trinken. Der letzte Metzger hat schon vor ein paar Jahren sein Geschäft geschlossen, ein kleiner Lebensmittelladen versorgt die Menschen mit dem Notwendigsten. Fast die Hälfte der Häuser sind teure Ferienresidenzen, vor allem Amerikaner haben sich in Gordes eingerichtet, um dort vielleicht zwei Wochen im Jahr provenzalische Luft zu schnuppern. Das dörfliche Leben erwacht meist nur noch, wenn dienstags vor dem Schloss die Marktstände aufgebaut werden. Ob es Victor Vasarely heute noch so gut in Gordes gefallen hätte? Oder all den anderen, die gekommen sind, um die Einsamkeit zu suchen und sich zwischen Ruinen ein neues Leben aufzubauen? Vielleicht hätten sie sich heute einen ruhigeren Ort gesucht.

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.