Paris, Ende September 2021
Wenn es derzeit einen Hotspot der Kunst gibt, dann liegt er mitten in Paris. Am Place de Charles-de-Gaulle, denn dort steht ein Wahrzeichen der Hauptstadt, der Arc de Triomphe. Irgendwo ganz in der Nähe hat Anfang der 60er Jahre der Künstler Christo gelebt, in einem winzigen Dienstmädchenzimmer unter dem Dach, so erzählte er es kurz vor seinem Tod. Von seinem Mansardenfenster aus blickte er auf das Bauwerk, war begeistert davon und hatte die Idee, es eines Tages zu verpacken. Nun hat sich dieser Lebenstraum erfüllt, der Triumphbogen ist verhüllt, auch wenn Christo und seine Ehefrau Jeanne-Claude es nicht mehr miterlebten.
Ursprünglich war die Kunstaktion für den Herbst 2020 geplant gewesen, doch der Tod des Künstlers und Corona brachten den Zeitplan durcheinander. Christo schloss vor einem Jahr, am 31. Mai 2020 in New York für immer die Augen, seine Frau Jeanne-Claude ist schon vor elf Jahren gestorben. Vollendet wurde das Kunstprojekt nun von Christos Neffen Vladimir Javascheff. Die technische Umsetzung gelang auch mit Hilfe einiger deutscher Unternehmen. Nur zwei Wochen ist das Ergebnis zu sehen, „L’Arc de Triomphe, Wrapped“. Nur noch bis zum 3. Oktober haben Pariser und Touristen aus aller Welt Gelegenheit, dieses Paris Bauwerk mal ganz anders zu sehen. So mancher war vielleicht schon bei der anderen bekannten Christo-Aktion in Paris dabei: 1985 hatte das Künstler-Ehepaar die Pont Neuf, die älteste Seine-Brücke der Stadt, in schimmerndes Gewebe verpackt. Zehn Jahre später folgte der Reichstag in Berlin, und daran kann ich mich selbst noch sehr gut erinnern. Wir fuhren damals von Münster in die noch nicht lange wiedervereinigte Hauptstadt und erlebten vielleicht zum ersten Mal bewusst, dass man Kunst im öffentlichen Raum zelebrieren und feiern kann. So sehr der silberverpackte Reichstag faszinierte, so fröhlich und befreiend war das Volksfest rundherum.
Jetzt also wieder Paris. Der Triumphbogen, verhüllt in ein silberblaues Polypropylen-Gewebe. 25 000 Quadratmeter groß ist die Hülle, 70 Gebäudekletterer waren nötig, die 19 Stoffbahnen über das 49,54 Meter hohe Bauwerk zu entrollen. Das ist höher als der damals noch kuppellose Reichstag! Mit 3000 Meter rote Kordel wurden die Stoffbahnen eingepackt. 14 Millionen Euro kostet die Aktion, finanziert allein aus Christos eigenen Mitteln, etwa durch den Verkauf seiner Skizzen und Pläne. Nach Ende der Kunstaktion soll das Material geschreddert und recycelt werden.
Wir fuhren mit der Metro zum Place de Charles-de-Gaulle. Dann standen wir auf den Champs-Élysées gegenüber und hatten den ersten Blick auf das verhüllte Kunstwerk. Ein erhabener Anblick. Da steht der Triumphbogen, inmitten des größten Kreisverkehrs der Stadt, als hätte er sich unter einer gewaltigen Housse versteckt. Zwölf Straßen laufen sternenförmig auf ihn zu. An diesem normalen Werktag brausen die Autos auf vielen nur zu erahnenden Fahrspuren um ihn herum, dass man nur staunen kann, warum es nicht alle fünf Minuten irgendwo kracht.
Wer dem Triumphbogen ganz nahe kommen will, muss den Tunnel unter der Straße nehmen. Durchgang derzeit nur nach Taschen- und Gesundheitspasskontrolle. Dann stehen wir direkt unter dem verhüllten Bauwerk – und staunen. Wie groß er ist! In meiner Erinnerung hat er viel kleiner ausgesehen. Das silberschimmernde Gewebe glänzt in der Sonne, und die Menschen drängen sich auf dem runden Platz um ihn herum. Viele Stimmen und viele Sprachen – wir scheinen irgendwie auch in eine deutsche Reisegruppe geraten zu sein. Die Menschen stehen, staunen, streicheln über den Stoff, blicken in den Himmel, lachen und machen Selfies – und irgendwie hat man immer das Gefühl, in irgendein Foto zu laufen.
Auf diesem freien Platz inmitten der vielen Straßenschluchten weht der Wind viel stärker als zwischen den hohen Wohn- und Geschäftshäusern. Böen rütteln an dem Stoff unter den Kordeln, und die Stoffbahnen wölben sich wie bei einem aufgeregten Theatervorhang, der sich gleich öffnen wird. Wie bei einem Heißluftballon, der gleich abhebt. Ja, diese Leichtigkeit war auch damals beim Berliner Reichstag zu spüren: Verhüllt ist dem massigen Koloss all seine Schwere genommen.
Plötzlich verdunkelt der Himmel sich, die ersten Regentropfen perlen über die silbrigen Stoffbahnen und platschen auf dem Boden vor der Ewigen Flamme, die über dem Grabmal eines unbekannten Soldaten im Gedenken an die vielen Toten der Kriege brennt. Der Platz ist auch ein politischer Ort, ein Ort der Trauer, der nun plötzlich ein Ort der Völkerbegegnung wird, der Lebensfreude. Regenschirme werden gezückt, und die Menschen drängeln sich unter dem Bogengewölbe zusammen. Es ist nur ein kurzer Regenschauer, wenig später strömen alle wieder hinaus, um den Platz erneut zu bevölkern.
Inmitten der Menge viele junge Menschen vom Christo-Team, sie tragen blaue Westen mit der Aufschrift „L’Arc de Triomphe, Wrapped“ und geben Auskunft über das Projekt. „Wollen Sie eine Erinnerung?“, fragt uns ein junger Mann, Enea steht auf seinem Namensschild. Und er zieht zwei kleine Polypropylen-Stoffquadrate aus seiner Tasche, silbern auf der einen, blau auf der anderen Seite. Auf dem Schwarzmarkt werden sie angeblich schon teuer gehandelt mit Höchstpreisen von knapp 40 Euro.
Wir können uns nur schwer trennen von diesem losgelösten Ort. Aber Christos Kunst hat immer auch einen zeitlichen Aspekt: Sie ist vergänglich. Man erlebt sie nur durch die eigene Präsenz. In wenigen Tagen wird der Triumphbogen sich wieder plustern, die Stoffbahnen abwerfen und dann ganz der Alte sein. Oder doch nicht ganz der Alte. In unserer Erinnerung wird er weiter schimmern. Auf den Champs Elysées drehen wir uns immer wieder um – noch einen letzten Blick… Der Triumphbogen glitzert im Sonnenschein. Und neben uns wird auf den Straßenbäumen in den Champs-Elysées die Weihnachtsbeleuchtung installiert.