Mittelalterfest in Avignon, September 2021

 

Es gibt Orte, an denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Avignon ist so ein Ort. Klotzige Mauern mit Zinnen umschließen die historische Altstadt mit vielen engen Gassen zwischen mittelalterlichen Gemäuern, Palästen, Kirchen und Kapellen. Überragt wird alles von dem wuchtigen Papstpalast, dem größten, gotischen Bauwerk Europas, in dem im 14. Jahrhundert die Päpste residierten. Man wähnt sich in längst vergangenen Zeiten. Erst recht, wenn mittelalterliche Lautenklänge erklingen und Rittersleute sich im Duell messen. Dann findet sich der Avignon-Besucher beim Mittelalterfest auf dem Place des Carmes wieder.

Es ist ein warmer Sonntag. Die Tauben gurren oben auf dem Kirchenturm. Der Turm der Kirche Saint-Symphorien-les-Carmes ragt weit über die Dächer des Quartiers hinweg. Die Kirche des früheren Karmeliterklosters ist schlicht. Sie hat eine bewegte Vergangenheit, in der Revolution wurde das imposante Klostergebäude der Karmeliten zerstört, die Kirche wurde Versammlungsort der revolutionären Jakobiner. Heute ist sie eine Pfarrkirche, dem heiligen Symphorianus geweiht, dem Patron der Falkner. Erhalten ist auch der alte Kreuzweg, der zu bestimmten Festivitäten geöffnet wird, zum Theaterfestival zum Beispiel – und zum Mittelalterfest natürlich, dem Festival Médiévales des Carmes, das dort sein Zentrum hat.

MittelalterHandler

Unter den Gewölben der Bogengänge aus dem 14. Jahrhundert haben an diesem Wochenende die Markttreibenden ihre Stände aufgebaut. In historischen Gewändern – die Männer in Pluderhosen und Tunika, in Wams oder Mantel, die Frauen in langen Kleidern - bieten die Händler ihre Waren an. Es gibt Pilgerbrote und Kekse nach alten Rezepten, allerlei merkwürdige Tinkturen, Salben und Kräuter und Cremes aus Schneckenschleim. Sie geben der Haut eine jugendliche Ausstrahlung, sagt der Verkäufer und guckt uns kritisch ins Gesicht. Nebenan hat ein Schmuckhändler seine Preziosen ausgestellt. Der Besucher kann wunderschöne Beispiele des frühen Buchdrucks bewundern, zusehen, wie aus Metallschlaufen ein Kettenhemd entsteht und dabei einen Becher Honigwein kosten. Derweil spielen auf der Bühne im Innenhof die Troubadoure zum Tanz auf, Männer und Frauen der Compagnons de la Tourrentelle drehen sich nach alter Weise. Und zwischendurch gibt es Schaukämpfe der Ritter.

 Tänzer

Seit 15 Jahren laden die Mittelaltervereine und -gilden des Quartiers am zweiten Septemberwochenende zu dieser Zeitreise ins alte Karmeliterkloster und den Garten rund um die Kirche ein, um das Leben und den Alltag der Menschen im Mittelalter in Szene setzen. Draußen, im Garten, präsentieren die Handwerker ihre Gewerbe: Der Messerschmied hat seine scharfen Klingen ausgelegt, daneben gibt es Taschen und Kleidung aus Leder, Keramikbecher und Holzschnitzereien zu kaufen und viele Ringe in Totenkopfform. Wie Vogelscheuchen sehen die Ritterrüstungen und Helme aus, die zwischen den Zelten aufgebaut stehen. Ein junger Mann im Harnisch erklärt Interessierten, wie die Ritter früher mit Schwert und Lanze ins Feld zogen. Auf Strohballen dazwischen sitzen junge Frauen, einige wie feine Burgfräulein gekleidet, andere in schlichten Leinengewändern. Eine perfekte Kulisse, wenn nicht hin und wieder eine der Frauen plötzlich ein Handy aus der Tasche ziehen und telefonieren würde. Und in der hintersten Ecke des Kirchgartens laden die Bogenschützen zum Wettstreit mit Pfeil und Bogen ein.

ritter

Es ist eine heitere Stimmung, und so langsam bekommt man richtig Spaß an diesem Mittelalter-Ausflug. Lange Kleider, Pfeil und Bogen – das sieht ein bisschen nach Karneval aus. Ich fühle mich erinnert an meine längst vergessenen Kinderzimmerphantasien: Habe ich mir damals nicht auch mal ausgemalt, wie es wäre, als Burgfräulein auf einer Burg zu leben und den Rittern im Turnier zuzusehen? Dass das wirkliche Mittelalter wohl ganz anders aussah - dass Frauen nichts zu sagen hatten, dass Menschen in Armut und Leibeigenschaft und in Furcht vor Gott und dem Teufel lebten, der Tod ein ständiger Begleiter und die Angst vor dem Weltuntergang ganz konkret und allgegenwärtig war - das mag man an so einem Tag gerne vergessen. Auch wenn der Gedanke an die vielen Seuchen, an Lepra, Pest und Cholera angesichts der Coronamaske, die auch an diesem Nachmittag zu den Hygienemaßnahmen gehört, gar nicht so weit weg ist.

Ritterausrüstung

Unter dem offenen Kreuzgewölbe zum Garten ist die mittelalterliche Taverne eingerichtet. Die Besucher sitzen an langen Bänken. Serviert werden gegrillte Brote, belegt mit Schinken, Tomaten und Käse. Ob so das Mittelalter schmeckte? Der Mann am Zapfhahn, der das Bier über den Tresen reicht, trägt ein braunes Lederwams mit Nieten. Was stellt er dar? Einen Söldner aus dem 13. Jahrhundert, sagt er. Damals seien Stoffe für viele zu teuer gewesen, Lederrüstungen waren erschwinglicher. Und was veranlasst einen Menschen des 21. Jahrhunderts, sich in einen Landsknecht aus längst vergangener Zeit zu verwandeln? Ihn fasziniere das Mittelalter, sagt der Mann. Und es mache ihm Spaß, diese Zeit auch für andere lebendig werden zu lassen.

Während wir in der Taverne sitzen und die fantasievollen Kostüme der Menschen um uns herum bestaunen, fallen plötzlich feine Federn in unser Bierglas. Wir bringen es in Sicherheit und blicken nach oben. Aus dem Gebälk rieselt es immer noch. Eine Taube scheint in ihrem Nest einen Hausputz veranstaltet zu haben. Viele kleine Federn fallen wie in einem lichten Schleier herunter. Man muss sich ein bisschen die Augen reiben – wirkt es nicht wie ein Vorhang, der sich über diesen Nachmittag legt - wie ein Theatervorhang, der sich öffnet als Einladung in eine andere Welt? .

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