Karaoke in Velorgues, August 2021

 

Velorgues ist das, was man im Französischen einen hameau nennt – ein Weiler. Ein paar Häuser, der Bäcker, die Autowerkstatt, eine Grundschule. Und das L’Anchois: Bar, Tabac und Restaurant, wo die Einheimischen Zigaretten kaufen und ihre Lottoscheine abgeben, einige Ältere schon morgens Karten spielen und die Landarbeiter abends zum Lärm des übergroßen Fernsehers, der den ganzen Tag über läuft, ihr Feierabendpastis trinken. Touristen verirren sich kaum dorthin, wenn mittags ein Essen serviert wird. Und die Einheimischen bleiben auch eher unter sich, wenn an den Wochenenden abends die Tische unter dem Terrassendach eingedeckt werden und der große Holzkohlegrill angezündet wird. Dann ist Grill-Zeit. Dazu wird an manchen Abenden noch etwas Besonderes serviert: Dann ist Karaoke angesagt.

Die Musik hatten wir in lauen Sommernächten schon häufiger aus der Ferne gehört. Nun ist endlich mal die Gelegenheit, dabei zu sein: Ein bunter Kreis aus Nachbarn und deren Freunde hat dafür einen Tisch reserviert. Pünktlich um halb acht sind wir da. Nach und nach füllen sich die Tische ringsherum mit Familien. Auf der einen Seite der Terrasse, neben dem Grill, hat DJ Manuson sein Pult aufgebaut und sein Equipment verteilt. Die ersten Biere, Pastis und Wein werden serviert. Und während die jungen Serviererinnen die ersten Grillplatten mit Pommes zu den Tischen bringen, verteilt der DJ seine Teilnehmerzettel. Per QR-Code kann sich jeder Sangeswillige übers Handy in die Liederlisten einlesen. Und wer sich traut und singen will, bekommt noch einen Mikrofonüberzug dazu - die notwendige Hygienemaßnahme in Coronazeiten. Karaoke?

Das ist für uns eine Premiere. Sollen wir es wagen, vor allen zu singen? Wie wäre es mit einem deutschen Lied, schlägt DJ Manuson vor. Er hat spezielle Listen für jede Sprache. Auch in Deutsch. Wir haben die Auswahl von Alexandras „Mein Freund der Baum“ über Heintjes „Mama“ bis zu den Zillertaler Schürzenjägern. Dazwischen viel Schlager und Schunkeliges, Andrea Berg, Bläck Fööss, aber auch die Ärzte, die Prinzen, DJ Ötzi, Helene Fischer, sogar Rammstein. Wir bitten um Bedenkzeit und lassen uns erst einmal unsere Fleischspieße schmecken.

An den beiden ersten Tischen werden dagegen schon eifrig die Liederlisten studiert. Vier Frauen und ein Mann sitzen an dem einen Tisch, ein älteres Paar am zweiten. Sie wippen zur Musik, die bisher nur leise aus dem Lautsprecher dudelt, und singen lautlos mit. Unsere Nachbarin kennt sie: Es sind Mitglieder des örtlichen Chores. „Oh, die singen gut“, sagt sie. Dann steht eine der Frauen auf und bringt ihren ersten Gesangswunsch-Zettel nach vorne. Jetzt kommt Bewegung in die Runde, alle füllen ihre ersten Zettelchen aus und bringen sie zum DJ. Der versteht das als Startschuss und dreht die Musik lauter. Es geht los. Die erste Sängerin wird aufgerufen. Sie ist schon etwas älter und hat sich herausgeputzt, sie trägt ein schwarzes langes Kleid und glitzernde Sandalen. Man muss es leider sagen: Sie hat kurze Haare und - enorme Hängebacken-, und wäre nicht die große Brille, wüsste man sofort, wer dort vorne steht: die deutsche Kanzlerin. Eine Beobachtung, die auch die Franzosen an unserem Tisch teilen: Ah, Frau Merkel singt, sagt jemand in die Runde, und alle lachen.

Frau Merkel hat jedenfalls eine perfekte Stimme, und ihren Liedtext kennt sich auswendig, sie muss nicht auf den Text starren, der über den Bildschirm läuft. Routiniert singt sie einen Blues-Song von Jean-Jacques Goldmann. Sie findet mühelos die höchsten Töne, um anschließend mit rauchigem Timbre ganz nach unten zu kommen, mal sing sie sanft, mal rockig. Und bekommt den entsprechenden Applaus. Das Mitsängerinnen an ihrem Tisch präsentieren sich nicht minder professionell. Und auch das ältere Paar von dem anderen Tisch, das mal als Solisten und mal im Duo beliebte französische Stücke trällert und sich dabei immer gegenseitig auf dem Handy filmt, macht ihre Sache gut. Die meisten Gäste haben inzwischen ihre Desserts verspeist und begleiten zum Rosé in ihren Gläsern die Gesangsvorstellungen. Längst haben wir beschlossen, an diesem Abend lieber kein deutsches Gesangsgut zu präsentieren.

Dann tritt DJ Manuson vor die Runde und sagt, es sei Zeit für eine gemeinsame Gesangseinlage. Die ersten Töne erklingen, und schon wissen alle, was der Takt geschlagen hat. Die Nationalhymne könnte nicht hingebungsvoller gesungen werden! Das Restaurant verwandelt sich in ein zitterndes Fußballstadium, wo die Fans aus vollem Herzen und Kehlen ihre Hymne schmettern. Aber weder National- noch Fußballhyme, und doch kennen auch wir diese Melodie. Aber es ist nicht Udo Jürgens, der da zur Musik von „Griechischer Wein“ die Franzosen in begeisterte Sänger und Sängerinnen verwandelt. Den Text singen hier alle auswendig. „Allez, allez! Les bleus et blancs l’Aviron Bayonnais, c’est la Peña, la Peña Baiona“.

Das ist doch ein deutsches Lied! Nein! Die Nachbarn schütteln die Köpfe, es wird heftig diskutiert. Erst ein Blick ins Internet belehrt uns alle: Griechischer Wein wurde wirklich von Udo Jürgens komponiert. Inzwischen aber gibt es viele Spielarten und Coverversionen. Eine davon ist die Hymne Peña Baiona der Fans des Rugby-Vereins von Bayonne und erfreut sich in Südfrankreich bei Feiern und Ferias, den südfranzösischen Stierkampf-Festen, großer Beliebtheit.

Es folgen noch eine ganze Reihe französische Mitsing-Klassiker, alle die Michel-Sardous und Johnny Hallydays, die man irgendwann schon mal gehört hat und die die Zuhörer begeistert von den Stühlen reißen. Es ist ein lustiger, ausgelassener, sehr französischer Abend. Und dennoch summen wir, als wir uns zu späterer Stunde auf den Nachhauseweg machen, eine altvertraute Melodie, die uns auch ein bisschen an Zuhause denken lässt.

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