Maubec, Juli 2021

 

Auf meiner „Was-ich-unbedingt-irgendwann-noch-lesen-möchte“-Liste steht ein Buch von Robert Louis Stevenson. Bevor er mit seiner „Schatzinsel“ bekannt wurde, unternahm er 1878 eine zwölftägige Wanderung durch die französischen Cevennen. Nicht alleine, sondern in Begleitung einer Eselin. „Reise mit einem Esel durch die Cevennen“ heißt der schlichte Titel seines Reisebuchs. Mit einem Esel wandern? Das ist mittlerweile schwer angesagt in alternativen Reiseführern. Und, um ehrlich zu sein: Eine Eselwanderung steht bei mir schon lange auf meiner To-Do-Liste. Es müssen ja nicht gleich zwölf Tage sein. Und nicht die Cevennen. Auf einer provenzalischen Eselfarm gleich in der Nachbarschaft kann man Esel schon für einen halben Tag mieten. Zum Probewandern sozusagen.

Auf der Internetseite des „Mas de l’Estang“ in Maubec ist eine Fotogalerie mit allen Eseln des Hofes, den „Oreilles du Luberon“, zu sehen. Die braunen Langohren gucken vorwitzig und tragen so lustige Namen wie Cannabis, Hip Hop, Tango und Quennie. Welcher wird unser Begleiter? Wir haben für einen Nachmittag ein Picknick mit Freunden geplant und wollen uns idealerweise die Kühltaschen von einem dieser Vierbeiner tragen lassen. Jean-Jacques Leblois begrüßt uns freundlich, doch von den Eseln ist zunächst nichts zu sehen. Mit Blick auf einen weiteren Begleiter, den wir mitgebracht haben und der beim Eselgeruch aufgeregt zu bellen beginnt, entscheidet der Hofherr, uns einen besonders ruhigen Esel zur Seite zu stellen. Er marschiert auf die Wiese neben seinem Hof, ruft, und schon erscheint ein weißes Langohr, das aufgeregt zum Gatter trabt. Das ist Calisson.

Esel 

Ein weißer Esel. Benannt nach dem weiß-glasierten süßen Mandelkonfekt der Provence, das ein bisschen an Marzipan erinnert. Neugierig beschnuppert er meine Hand, während Jean-Jacques Leblois ihn striegelt und die Hufe auskratzt. Um sein weiches Maul herum und unter einem Auge ist sein Fell durch die Sonne verbrannt, die rosa Haut leuchtet. Albino-Esel haben wie alle Hellhäuter eine empfindliche Haut, erzählt Jean-Jacques Leblois und reibt eine weiße Creme auf die Stellen. Dann setzt er dem Esel den großen Packsattel auf den Rücken und hängt an jede Seite eine große Packtasche. Ein Schabmesser legt er auch hinein: Wenn der Esel sich einen Stein in den Huf trete, könnten wir ihn damit herauskratzen, sagt der Eselfarmer. Eine Vorstellung, die uns – allesamt ungeübt im Umgang mit Pferden und Eseln – eher Unbehagen bereitet. Dann drückt der grauhaarige Provenzale uns eine Landkarte in die Hand. Unsere Strecke ist darauf rot markiert. „Der Esel kennt doch den Weg?“, frage ich. „Nein“, sagt der Mann und verstaut unsere Picknicksäcke in den Packtaschen.

Die ersten 200 Meter begleitet er uns. Und gibt uns weitere Verhaltensregeln auf den Weg. „Der Esel wird Sie testen, er wird stehenbleiben und grasen wollen. Aber Sie sind der Chef. Sie müssen entscheiden, wann der Esel fressen darf.“ Wir nicken. Esel, sagt Leblois, entsprächen im Verhalten einem etwa sechsjährigen Kind. „Niemals an der Leine ziehen!“ Dann reagiere Calisson, wie man es von einem Esel erwarte, nämlich störrisch. Statt zu ziehen, sollten wir ihn von hinten anschieben. „Keine Sorge, er wird nicht ausschlagen!“ Dann geht es alleine weiter. Der Weg ist zunächst ein ausgetretener Feldweg durch hohes Gras. Calisson trabt an der kurzen Führleine brav neben uns her und lässt sich von dem Hundegebell, das ihn begleitet, nicht aus der Ruhe bringen.

Vorbei geht es an Olivenhainen und Lavendelfeldern, die gerade in prächtigstem Lila erleuchten. An der ersten großen Straßenkreuzung laufen wir in die falsche Richtung und müssen wieder ein Stück zurück. Häuser und Gärten, Zäune und Mauern rechts und links. Das Konzert der Zikaden umhüllt uns. Vorbei geht es an der alten Kirche von Maubec und dann entlang des Luberon. Wir wechseln uns an der Leine ab. Wir müssen unsere Kühltaschen nicht schleppen und haben die Arme frei. Calisson trottet in einem ruhigen, regelmäßigen Schritt, an den wir uns schnell gewöhnen. Alles geht seinen gemächlichen Gang. Der Himmel ist blau, die Sonne heiß, aber es weht ein frischer Wind, der das Weitergehen leichter macht. Und irgendwas macht dieser kleine Esel mit uns. Anders als ein Hund, der an der Leine läuft, trabt er auf unserer Höhe an unserer Seite. Und nimmt uns ganz in seine ruhige Energie. Der Weg ist nicht mehr nur ein Wanderweg, sondern bekommt eine gewisse Andacht. Jeder Moment ist ganz klar, spürbar, schön. Und wir sind ganz gegenwärtig.

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Fahrradfahrer überholen uns vorsichtig, und wenn wir eine Straße überqueren, blicken die Autofahrer neugierig zu uns herüber. Gelegentlich macht Calisson den Versuch, ein paar besonders grüne Grashalme am Wegesrand zu erhaschen, aber er lässt sich breitwillig weiterführen. Seine langen Ohren drehen sich mal nach vorne, mal nach hinten, mal drehen sie sich abwechselnd. Er ist wirklich brav! Nur einmal sind die Grashalme wohl zu verführerisch – und wir müssen ihn tatsächlich von hinten schieben, um ihn wieder in die richtige Richtung zu bringen.

Nach etwa eineinhalb Stunden erreichen wir den Wald, der sich über den Berghang des Luberon bis zum Gipfel erstreckt. Dort könnten wir gut unter im Schatten der Bäume picknicken, hatte uns Jean-Jacques Leblois empfohlen. Wir legen zwei Decken auf den Boden, packen Brot, Käse und Wurst und eine kühle Flasche Rosé aus den Packtaschen. Und was machen wir mit Calisson? Die Führleine ist zu kurz, um ihn anzubinden. Wir lassen sie einfach fallen, und sofort beginnt der Esel friedlich um uns herum zu grasen – misstrauisch beäugt von unserem Hundebegleiter, der aber sicherheitshalber auf Distanz bleibt. Der Käse ist lecker, ebenso der Rosé, und nachdem wir sicher sind, dass Calisson nicht sofort seine Freiheit auskostet und sich davon macht, strecken wir uns auf unseren Decken aus. Schließlich kommt auch Calisson auf seine Kosten: Behaglich mümmelt er die Möhren, die wir für ihn mitgebracht haben. Zutraulich drückt er seine Schnauze in unsere Seite. Sein Fell fühlt sich ganz drahtig an.

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Der Weg von Maubec aus führt durch eine schattige Platanenallee und weiter über Felder und Weinberge. Hinter einem Zaun scharren Freilandhühner, von riesigen weißen Hunden bewacht. Dann grasen Pferde auf den Wiesen, an denen wir vorbeikommen. Ein großer Pfau schreitet stolz über den Sandpfad. Wir träumen vor uns hin und malen uns aus, wie es wäre, wenn wir Calisson einfach mit nach Hause nehmen könnten.

Stattdessen stehen wir nach viereinhalb Stunden wieder an der Hofeinfahrt der Eselfarm. Monsieur Leblois übernimmt die Leine und packt den Sattel ab. Alles ist gut gelaufen. Selbst unser Hund hat schon lange keine Energie mehr, um zu bellen. Zum Abschied streicheln wir Calisson noch einmal über die Stirn, bevor sein Besitzer ihn zu seinen braunen Artgenossen auf die Wiese führt. Es war ein ganz besonderer Nachmittag mit Calisson. Eine Wanderung mit Esel durch ein kleines und schönes Stück Provence. Vielleicht nehmen wir doch mal die Cevennen in Angriff? Aber zuerst werde ich jetzt doch mal das Buch lesen.

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