In Oppède-le-Vieux, Juni 2021

 

Manche Orte besitzen eine besondere Magie. In ihnen scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Das heißt nicht, dass sie tot sind. Oppède-le-Vieux ist so ein Ort: Das alte Dorf – „le vieux“ - wurde im vergangenen Jahrhundert von seinen Bewohnern aufgegeben und dem Verfall überlassen. Und doch ist es heute wieder sehr lebendig! Auf dem Parkplatz unterhalb des Dorfes gibt es im Sommer kaum einen freien Platz, die Menschen drängen sich durch die engen, ausgetretenen Gassen, wo die Rosen über alten Mauern ranken. In die kleine Rue du Portalet, die etwas abseits liegt, verirrt sich dennoch kaum jemand. Dabei birgt Oppède gerade dort ein magisches Geheimnis!

Auf dem Nordhang des Luberon-Gebirges gelegen, ist Oppède von einer atemberaubenden Bergkulisse umgeben. Schon früh flüchteten sich die Menschen auf diesen Felsvorsprung. Der Name leitet sich vom lateinischen „oppidum“ ab – dem befestigten Ort. Von den Römern finden sich einige Spuren, etwa ein Altar, der dem Gott Merkur gewidmet war. Zum ersten Mal erwähnt wurde das Bergdorf im Jahr 1008. Es gehörte verschiedenen Grafen, bevor es im 13. Jahrhundert in päpstlichen Besitz überging. Die Kirche oben auf dem Gipfel wurde im 12. Jahrhundert gebaut, im 13. Jahrhundert entstand die Burg daneben. Im 18. Jahrhundert wurde sie zerstört – nicht durch Krieg oder revolutionären Zorn, sondern durch ein Erdbeben. Die Ruinen thronen nun majestätisch über dem verlassenen Dorf.

Dorf

Denn im 19. Jahrhundert zogen die Menschen vom Berg ins flache Tal. Vielleicht waren sie die steilen Wege leid. Oder die feuchten und langen Schatten, die der Berg über das Dorf wirft. Gerade noch zehn Einwohner hielten 1936 im alten Oppède die Stellung. Das Dorf verfiel. Tief ausgetreten ist heute der Steinweg, der durch den Torbogen zur Burg und zur wieder aufgebauten Kirche führt. Von vielen der Häuser aus dem 15. und 16. Jahrhundert stehen nur noch die Grundmauern, aus hohlen Fenstern ranken die Äste. Die Natur hat sich den Raum zurückerobert. An anderen Fassaden sind die Öffnungen zugenagelt.

OppedeKirche

Verfall hat auch einen Charme. Eine neue Zeit brach für Oppède nach dem Zweiten Weltkrieg an, als Künstler und Intellektuelle aus Paris die Schönheit der bröckelnden Mauern entdeckten. Sie renovierten die Häuser und eröffneten Töpferwerkstätten und Galerien. Der deutschstämmige Bildhauer François Stahly gehörte dazu, der Architekt Bernard Zehrfuss und die Künstlerin Consuelo de Saint-Exupéry, die Ehefrau von Antoine de Saint-Expuéry, dem Schöpfer des „Kleinen Prinzen“. Später kamen die Touristen und Ferienhausbesitzer. Der britische Regisseur Ridley Scott soll dort ein Anwesen haben. Im Sommer pilgern die Menschen hinauf zur Kirche, wo ihnen die ganze Provence zu Füßen liegt. Dort finden schon seit ein paar Jahren klassische Konzerte zum Sonnenuntergang statt.

OppedeDorf

Den schönsten Ort, um nach diesem steilen Aufstieg zu entspannen, ist das „Le Petit Café“. Mitten im alten Dorf sitzt man an bunten Tischen, von den der Lack blättern, und genießt am Nachmittag einen kühlen Rosé und am Abend ein provenzalisches Menu. Das Petit Café ist auch eine gute Anlaufstelle, um sich den Weg zum mystischen „Sator-Quadrat“ erklären zu lassen. Es ist eigentlich gleich um die Ecke, aber dennoch nicht einfach zu finden. Der junge Kellner, den wir an diesem Nachmittag fragen, ist offensichtlich noch nicht lange im Team, er muss sich bei seiner Chefin erkundigen, die in einer Ecke der Terrasse die Reservationen für den Abend abarbeitet. Mit ihrer Hilfe stehen wir wenig später vor dem magischen Quadrat, das an einem alten Steinhaus in die Wand geritzt ist.

OppedeCafe

Was es mit dem Sator-Quadrat auf sich hat? Es ist ein uraltes Satzpalindrom, ein Quadrat, dessen fünf Zeilen man von oben nach unten, von unten nach oben, von rechts nach links und von links nach rechts lesen kann. Von alters her wurde dieses Quadrat als magisches Schutzmittel an vielen Orten gezeichnet, der älteste Beleg findet sich in den Ruinen von Pompeji. Andere Fundorte sind in Syrien, in England, Portugal, Ungarn, Italien und nicht wenige in Frankreich. Fünf Wörter enthält die lateinische Wortfolge: SATOR, AREPO, TENET, OPERA und ROTAS. Die Bedeutung gibt bis heute Rätsel auf. Sator bedeutet lateinisch der Sämann, Arepo ist ein gänzlich unbekanntes Wort, wohlmöglich ist es ein Name, tenet bedeutet „hält“, opera steht für Werk und rotas könnte für Räder stehen. „Der Sämann Arepo hält mit Mühe die Räder“, so lautet eine Leseart.

Quadrat

Andere Forscher sehen in dem Quadrat ein christliches Anagramm: Alle Buchstuben, von oben nach unten und von links nach rechts zu einem neuen Wort in einem Kreuz zusammengestellt, ergeben zweimal das Wort „Paternoster“ – Vaterunser. Übrig bleiben vier Buchstaben, zwei A und zwei O – Symbole für Alpha und Omega. War das Sator-Quadrat vielleicht ein Erkennungszeichen der ersten Christen? Eine völlig andere Erklärung liefert die Numerologie, die Zahlensymbolik. Wenn nämlich jedem Buchstaben eine Zahl zugeordnet wird – A gleich 1, B gleich 2… - ergeben sich folgende Werte: Sator 73, Arepo 55, Tenet 64, Opera 55 und Rotas 73. Die Quersumme lautet jeweils 10 – und somit 1. Alles klar?

Und schließlich gibt es jene Deuter, die dem Sator-Quadrat jegliche Bedeutung absprechen … hat sich irgendwann in grauer Vorzeit jemand einfach einen Spaß gemacht, der quer durch die Zeit und den Raum immer wieder zur Rätseln Anlass gibt? Wie sehr das Rätsel immer noch fasziniert, das beweist der Action-Spionage-Film „Tenet“ von Christopher Nolan, der 2020 in die Kinos kam: Tenet ist dort der Codename für die Mission des Hauptdarstellers, dessen Gegenspieler der russische Waffenhändler Andrei Sator ist, ein im Film erwähnter Kunstfälscher heißt Arepo, die Eingangsszene spielt in der Oper (opera) – und Rotas ist der Name eines fiktiven Unternehmens.

Und wie kommt das mystische Rätsel nach Oppède-le-Vieux? Der frühere Besitzer des Hauses soll ein Künstler gewesen sein, der es in den fünfziger Jahren an seine Hauswand kratzte. Jetzt jedenfalls steht das Haus offensichtlich leer. Die Holztür ist mit Spinnweben eingerahmt, die Tür wurde schon lange nicht mehr geöffnet. Das macht diesen Ort umso versponnener.

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