In den Antiquitätengeschäften von L'Isle sur la Sorgue, April 2021
Ist das noch was wert, oder kann das weg? Das ist in L’Isle sur la Sorgue die entscheidende Frage. Wohl nirgendwo sonst in Frankreich bekommen die Dinge des Lebens so oft eine zweite Chance wie hier. Denn L’Isle ist „die“ Stadt für Antiquitäten. Schon seit 1920 treffen sich Trödelfreunde aus aller Welt in dem kleinen Ort nahe Avignon. Zweimal im Jahr, zu Ostern und im Herbst, findet dort der nach Paris größte Trödel- und Antiquitätenmarkt des Landes statt. Dann verwandelt sich für ein paar Tage die ganze Stadt in einen riesigen Kunstmarkt unter freiem Himmel. Über 500 Händlern aus dem ganzen Land und Tausende von Besuchern – schon zum zweiten Mal fällt wegen Corona dieses Großereignis aus. Die Antiquitäten-Promenade, zu der die örtlichen Händler zu Ostern organisiert haben, ist da kein Ersatz, aber eine willkommene Einladung, mal wieder eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen.
Wer zum Beispiel mag schon alles an diesem derben langen Holztisch gesessen haben? Eine glückliche Familie? Fischer, Bauern? Welches feine Fräulein hat sich an dem edlen Sekretär niedergelassen, um nach Feder und Tinte zu greifen und einen Brief zu schreiben? Welche adelige Dame hat für das Porträt im goldenen Rahmen Modell gesessen? Mit weisem Lächeln blickt sie seit Jahrhunderten ihre Betrachter an und hat ihre Identität längst im Fluss der Zeit verloren.
Alles, was sich über Jahre gut erhalten hat, in L’Isle sur la Sorgue ist es zu finden. Über 250 Antiquitätenhändler haben hier ihre Läden, die sich meist um einen freien Innenplatz reihen – so finden sich viele kleine „Antiquitätendörfer“ über das Städtchen verstreut und locken das ganze Jahr über Besucher aus aller Welt. Es gibt die edlen Geschäfte, die ihre Kostbarkeiten wie in Museen ins Licht setzen und durch die man sich mit Vorsicht bewegt, um ja nichts umzustoßen. Und es gibt die Trödelshops, in denen alles schon etwas shabby und angestoßen ist und man nach Lust und Laune stöbern kann. Dazwischen ist der Spielraum groß.
Und manchmal sind die Zeitschnitte krass. Mal schreiten wir durch ein Museum, mal durch eine IKEA-Seite. Eine alte Kaufmannskasse steht gleich hinter einer Ritterrüstung, ein paar Schritte weiter steht ein kirchliches Taufbecken aus dem 13. Jahrhundert. Im goldenen Rahmen darüber eine idyllische Schäfer-Szene aus dem 18. Jahrhundert. Welche Kinder haben wohl das rüschenbesetzte Taufkleid getragen? An edle antike Möbeln schließt eine Galerie an mit Murano-Vasen. In der Mitte eines Raums sitzt ein lebensgroßes rosa Schwein, auf dessen Rücken sich silberne Schmetterlinge in den Borsten niedergelassen haben. Wir staunen, doch hinter uns stehen schon die nächsten Flaneure mit Mundschutzmaske und drängen. Irgendwo habe ich gerade gelesen, dass Galerien eine neue Glanzzeit erleben: In Corona-Zeiten, in denen fast überall noch die Museen geschlossen sind, werden Kunstgalerien plötzlich ein beliebter Treffpunkt für den nachmittäglichen Bummel.
Überall blitzt Silberbesteck, edles Porzellan stapelt sich, kristallene Schnapsgläschen in allen Formen und Farben. Dazwischen stehen kleine Schälchen mit Schoko-Ostereiern. Ach ja, es ist ja Ostersamstag. Eine große Glaskugel hat es uns ein bisschen angetan. Was soll sie denn kosten? Der junge Mann gruschelt ein bisschen herum und sagt: 200 Euro. Ein stolzer Preis. Die gleiche Kugel haben wir zu Beginn unserer Bummeltour irgendwo anders für 120 Euro gesehen.
Jede Zeit findet ihre Staffage. Antiquitäten und Trödel, Bücher und zeitgenössische Kunst, Design und Deko: Während wir von einem Stil in den nächsten flanieren, bekommt man Lust, sich mal komplett neu einzurichten. Ein Händler drängt sich uns ein bisschen auf, um uns das Geheimnis des kleinen hölzernen Tischchens mit einer Marmorplatte aus dem 18. Jahrhundert zu demonstrieren: „Das ist nichts für Damen“, sagt er, zieht verschmitzt die Marmorplatte nach vorne und klappt einen Spiegel von hinten hoch. So haben sich die Herren einst den Bart rasiert.
Eines der größten Antiquitätendörfer der Stadt ist das Villages des antiquaires de la gare: In der großen Halle reihen sich auf zwei Etagen die Antiquitätenshops aneinander. Hier wirkt alles schon etwas angestaubt. Und nichts, was es dort nicht gibt: Kupferne Töpfe, Nierentischchen, Billardtische, Donald-Duck-Figuren, sogar Fangreusen und Bundeswehrjacken entdecken wir in dem bunten Allerlei
Zu dieser Stunde legt sich der Geruch von Essen über das bunte antiquarische Sammelsurium. Mittagszeit – die Händler aus verschiedenen Nachbarshops haben sich mit Pizzakartons, Essensschachteln und Roségläsern gemeinsam an den langen Tischen niedergelassen, an denen früher vielleicht fröhliche Großfamilien Platz genommen haben. Nebenan im Garten unter der Pergola ist sonst ein beliebtes Restaurant, in dem in Vor-Corona-Zeit zur Mittagszeit jeder Tisch besetzt war.
Wir wollen gar nichts kaufen, nur gucken. Schließlich entdecken wir doch eine schöne kleine Design-Stehlampe. Ein Preisschild fehlt leider. „Nach Bernard fragen“ steht auf einem Zettel auf dem großen Tisch daneben. Wir fragen die Händlerin im Nachbargeschäft, und sie macht sich auf die Suche. Wir müssen eine ganze Weile warten. Bestimmt sitzt Bernard irgendwo an einem der Tische mit anderen Händlern und will gerade seine Pizza essen. Aber da kommt er, ein älterer Herr. Wie er uns helfen könne, fragt er. Wir zeigen ihm die Leuchte, was sie denn kosten solle? Er guckt enttäuscht. Die Lampe? Die sei doch nur Deko, zur Beleuchtung – die Lampe sei doch nur von IKEA.