Der jüdische Friedhof von L'Isle sur la Sorgue, Oktober 2020

 

Gottesacker. Ja, das ist ein Gottesacker im wahrsten Sinne des Wortes: Grabsteine mitten auf einer Wiese, so scheint es. Eingerahmt von einem Gitter. Ab vom Weg, zwischen Apfelplantagen und Feldern, mit dem Mont Ventoux am Horizont, ganz einsam im Nirgendwo. Dort, unter dem blauen provenzalischen Himmel, haben bis 1939 die Juden von L’Isle sur la Sorgue ihre letzte Ruhe gefunden. Ohne Wegbeschreibung hätten wir den Acker wohl kaum gefunden. Und auch in L’Isle ist der jüdische Friedhof lange Zeit vergessen worden.

Wenn Steine reden könnten! Erzählen, was sie so alles erlebt und gesehen hätten... Diese 40 Grabsteine könnten bestimmt einiges erzählen. Aber Steine bleiben stumm, und so müssen Archäologen sie zum Sprechen bringen. Die Geschichte der Juden und das jüdische Leben in L’Isle sur la Sorgue ist ein Thema, das Historiker derzeit besonders beschäftigt. Und so rückt der Gottesacker im Nirgendwo wieder in den Blickpunkt.

 

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Dazu muss man wissen: Die kleine Provencestadt L’Isle sur la Sorgue gehörte – wie die Orte ringsherum - lange Zeit gar nicht zu Frankreich. Sondern zur Grafschaft Venaissin (Comtat Venaissin). Das Comtat bezeichnete eine kleine Region östlich von Avignon, die einst dem Grafen der Provence, später dem Grafen von Toulouse gehörte. 1271 fiel sie an den Papst in Rom, der 1348 auch die Grafschaft Avignon übernahm. Die päpstliche Herrschaft endete in diesen beiden Comtats erst mit der Französischen Revolution. Bis dahin galten in der päpstlichen Enklave andere Regeln und Gesetze als im Rest des Königreiches. Als dort im 12. bis 14. Jahrhundert die Juden immer wieder vertrieben wurden (letztmalig und endgültig 1394), fanden viele der Vertriebenen im päpstlichen Kirchenstaat Zuflucht, denn unter der Obhut des Papstes konnten sie noch einen „gewissen“ Schutz genießen.

An vier Orten - in Avignon, Cavaillon, Carpentras und in L’Isle sur la Sorgue - fanden sich die so genannten „Juden des Papstes“ zusammen und bildeten jüdische Gemeinden mit eigenen Wohnvierteln, den Ghettos - „Carrières“ wurden sie im Provenzalischen genannt. Dort lebten die Juden abgeschlossen für sich, in engen Häusern mit vielen Etagen auf kleinem Raum. Wenn sie das Viertel verlassen wollten, mussten sie einen gelben Ring an ihre Kleidung heften, später trugen die Männer auch noch einen gelben Hut. Erst mit der Französischen Revolution wurden die Juden in Frankreich als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt. Von diesem Zeitpunkt an zerschlug sich die jüdische Gemeinde von L’Isle sur la Sorgue. Lebten 1789 noch rund 63 Familien mit 300 Menschen im Ghetto, so umfasste die Gemeinde 1808 nur noch 22 Menschen.

Das jüdische Viertel mit der Synagoge befand sich bis dahin mitten im Zentrum, nicht weit von der Kirche entfernt. „Place de la Juiverie“ (Platz des jüdischen Viertels) steht noch heute auf dem Straßenschild. Zwei Häuser des Ghettos aus dem 18. Jahrhundert sind noch erhalten. Mehr als einem Kilometer außerhalb der Stadt liegt dagegen der Friedhof: Im Süden, nicht weit entfernt von der Straße nach Caumont. Viele Jahre war dieser Ort ganz vergessen. Büsche, Bäume und Gräser eroberten den Gottesacker und verbargen die Grabsteine und ihre Geschichte. Jetzt ist die Wildnis das historische Areal wieder freigelegt. Der Friedhof, seit 1906 im städtischem Besitz, wurde 2008 als historisches Monument anerkannt. Eine erste historische Studie wurde 2013 in Zusammenarbeit mit der Universität Avignon begonnen.

„Es ist nicht einfach, denn Ausgrabungen sind hier nicht möglich. Auf einem jüdischen Friedhof darf die Totenruhe der Bestatteten auf keinen Fall gestört werden“, erzählt Florence Bombanel, die sich in L’Isle sur la Sorgue um das historische Kulturerbe der Stadt kümmert. Anlässlich der „Europäischen Tagen der jüdischen Kultur“ hat sie das große eiserne Portal am Eingang des Friedhofs für einen Tag für Besucher geöffnet.

Möglicherweise, so eine erste These der Historiker, war der Friedhof nach seiner Errichtung 1736 noch viel größer. Viele Grabsteine wurden gestohlen. Die 40 Grabsteine, die noch erhalten sind, konnten vier Familien zugeordnet werden, wobei die Gräber einer jeden Familie einen eingefriedeten Bereich für sich bilden. Als da wären die Familien Abram, Carcassonne, Crémieux und Créange. Abgesehen von Abram, das sich von Abraham ableitet, sind die Namen als Verweis auf die Herkunftsorte zu verstehen: Carcassonne ist eine Stadt im Languedoc, Crémieux bezeichnet Crémieu im Département Isère und Créange die Moselgemeinde Créhange im Elsass.

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Was könnten die Steine heute erzählen? Vielleicht von den Menschen, die unter den Grabstelen ihre letzte Ruhe gefunden haben? Von ihren Beziehungen untereinander. Adolphe Michaël Israël Abram zum Beispiel, 1905 bestattet, war ein bedeutender Sohn der Stadt. Er hat in Aix-en-Provence gearbeitet und war zum Lebensende – wie viele andere gebürtige Juden der Stadt auch - in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. Von 1871 bis 1874 bekleidete er das Amt des Bürgermeisters und war Friedensrichter. Die Familie Crémieux arbeitet als Pferdehändler und brachte es so zu einigem Wohlstand. Als letzter wurde Moïse Créange im Jahr 1939 auf diesem Gottesacker bestattet.

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Entsprechend der Tradition sind die Grabflächen nüchtern und schnörkellos gestaltet. Blumenschmuck ist tabu, Besucher haben auf einige Grabplatten Steine gelegt. Ein Grab fällt allerdings aus diesem nüchternen Rahmen: das von Leon Créange. Die Worte, mit denen sich seine Frau Ruth von ihm verabschiedet, sind fast ein Liebesgedicht. Leon, „geboren am 5. März 1851, aus unserer Liebe gerissen am 12. April 1889“, war mit den Worten seiner Frau ein Ehrenmann und Wohltäter, sein Leben war geprägt von Liebe, Arbeit und Selbstlosigkeit. „Er war der beste Sohn und der beste Bruder, der zärtlichste Vater und der liebevollste Ehemann“, so lautet die Inschrift. „Dass deine schöne Seele in Frieden ruhe neben unserer Tochter Berthe – im höchsten Himmel, wache über uns“. Wenn dieser Grabstein reden könnte – er wüsste vielleicht eine schöne Liebesgeschichte zu erzählen