In den Calanques bei Cassis, August 2020
"La grande bleue", die große Blaue, so nennen die Franzosen das Mittelmeer. Was gibt es Schöneres, als einen heißen Sommertag in der Frische dieses aquamarinen Diamanten zu verbringen? Wenn das glitzernde Dunkelblau des Wassers sich am Horizont mit dem vom Mistral frei gefegten Himmelsblau mischt, dann dehnt sich die Welt zur Unendlichkeit. Am liebsten gehen wir in Cassis an Bord: Denn eine Schiffstour in die Calanques bietet neben dem blauen Wunder noch das Spektakel einer unvergleichlichen Küstenlandschaft.
Für die Möwen, die über dem Küstenstreifen zwischen Marseille und Cassis kreisen, ist unser Boot nur eines von den vielen unzähligen, die jeden Tag wie weiße Nussschalen im blauen Wasser schaukeln. Und heute schaukeln sie ordentlich. Der Mistral, dieser kalte, trockene Wind, der in Südfrankreich regelmäßig die Rhône hinunterjagt, bläst über das Wasser. Die Wellen schwappen immer höher die Bordwand hinauf. Eine besonders neugierige Möwe beäugt das Ausflugsboot von oben und begleitet unsere Ausfahrt aus dem Hafen. Immer wieder streift sie dicht über die Köpfe der Bootsausflügler hinweg. Junge Familie mit kleinen Kindern, die ihre letzten Ferientage auskosten, haben es sich auf den Bänken an Bord bequem gemacht. Vielleicht wundert sich die Möwe insgeheim, dass alle einen Mund-Nasen-Schutz tragen, der bei den meisten allerdings nach zehn Minuten Fahrt wie versehentlich unter die Nase rutscht?
Acht Calanques stehen auf dem Programm der eineinhalbstündigen Schiffstour. Wie Fjorde sind sie tief ins Landesinnere geschnitten – Überreste der letzten Eiszeit, als der Meeresspiegel stieg und sich die Täler ins Land fraßen. So entstanden kleine einsame Buchten und Strände, überragt von steilen und bizarren Felswänden, in denen Wasser und Wind ihre Spuren hinterlassen haben. Wer jedoch ein Sonnenbad an einem dieser idyllischen Strände genießen möchte, muss entweder die Wanderschuhe anziehen oder in ein Boot steigen. Einige der Buchten sind nur für geübte Kraxler über schwierige Klettertouren zu erreichen. Die Ausflugsboote der Touristen konkurrieren auf der Wasserseite mit den größeren und kleineren privaten Jachten, die vor den Felsen dümpeln - richtig einsam wird es selbst in der Abgeschiedenheit nicht.
Jede Calanque ist ein Erlebnis für sich. Blauer kann Wasser nicht werden als in der schmalen Calanque Port Pin. Eingerahmt wird der kleine Sandstrand von hohen, weißen Klippen, die von Aleppokiefern gekrönt werden. Es ist ein Wunder der Natur, wie diese Bäume ganz ohne Erde ihre Wurzeln zwischen den Steinen festkrallen.
Wie viele Blautöne gibt es? In der Sonne funkelt die Wasseroberfläche. Indigo, türkis, aquamarin, lapislazuli – das Spiel der Natur mit den Farben ist ein Schauspiel. Wir schauen über die Bordkante in Meer. Das Wasser ist klar, kleine Fische schillern in der Tiefen.
Die langgestreckte Calanque d’En Vau zählt zu den schönsten Buchten am ganzen Mittelmeer. Das Wasser ist glasklar und türkisfarben, der Kiesstrand klein. Die steilen Felsen überragen die Bucht, so dass die Sonne schwer hineinfindet. Das Wasser ist deshalb immer etwas kälter. Markant ist eine einzelne Felsnadel, „doigt de Dieu“ wird sie genannt – Finger Gottes. Und der Finger zeigt natürlich in den Himmel.
Der Mistral dreht noch einmal richtig auf. In großen Wellen schwappen in langen Zungen über die Bordwand und die Köpfe der Ausflügler hinweg. Kinder johlen, die Eltern rutschen zusammen. Die Möwe über dem Schiff kreischt, es klingt wie ein Lachen.
Die Calanque Morigou unterscheidet sich von den anderen. Sie ist die einzige, die bewohnt wird. An die 40 Menschen verbringen den Sommer dort, es gibt einen Fischereihafen, ein Restaurant – und sogar einen Bouleplatz! Und irgendwo in der Tiefe, 37 Meter unter der Wasseroberfläche, liegt der Eingang zur Henri-Cosquer-Höhle. Benannt ist sie nach ihrem Entdecker, der den Höhleneingang 1985 beim Tauchen ausfindig machte. Der Zutritt ist verboten, um so einen besonderen historischen Schatz zu schützen: Der höhere, nicht vom Wasser überfluteten Teil der Höhle birgt Felsmalereien aus der Zeit zwischen 27000 und 19000 vor Chr. Bisons, Pferde, Steinböcke, Meerestiere, ja sogar Robben und Pinguine haben die Menschen der Jungsteinzeit auf den Wänden verewigt.
Das Boot hat inzwischen gedreht. Auf der Rückfahrt zum Hafen liegt es im Wind, die Fahrt ist ruhig, und auf den Bänken kehrt Ruhe ein. Als die Ausflügler wieder Cassis erreichen, sind die nassen T-Shirts längst getrocknet. Die Möwe ist schon vorher abgebogen und fliegt mit lauten Schreien wieder hinein in das große Blau.