In Lacoste, August 2020
Lacoste? Ja, das ist das Krokodil auf dem Poloshirt. Wer Lacoste ins Navi eingibt, landet im nächstgelegenen Sportgeschäft. Aber Lacoste ist nicht nur eine französische Modemarke, sondern ebenso ein Dorf in der Provence. Ein typisches, schönes, aber auch eigenwilliges kleines Dorf auf einem Berghang des Luberon-Gebirges mit einem Café am Dorfeingang, einer alten Kirche, einem verfallenen Schloss und einem wunderschönen Blick über das weite Tal. Und Lacoste ist mittlerweile mit dem Namen eines anderen bekannten französischen Modeschöpfers verknüpft: mit Pierre Cardin. Dem gehört nämlicher schon ein Drittel des Ortes.
Die Provenzalen denken bei Lacoste eigentlich noch an jemanden ganz anderen: an Donatien Alphonse François de Sade. Ja – an den bekannten Marquis de Sade (1740-1840), einem adeligen Freigeist, Philosophen und Schriftsteller. Überliefert ist, dass er ein ausschweifendes Leben führte, grausame und verstörende sexuelle Phantasien hatten und gewaltpornographische Romane schrieb. Sie haben das Wort Sadismus mitgeprägt. Sade verbrachte ein Drittel seines Lebens hinter Gefängnismauern und in der Psychiatrie. Einige wenige Jahre seiner Freiheit hat er auf seinem Schloss in Lacoste verbracht, bevor es 1792 im Zuge der Französischen Revolution gestürmt und zerstört wurde.
Die Geschichte des Marquis und dem Zauber des Dorfes ist der Modeschöpfer Pierre Cardin vor 20 Jahren verfallen. Damals stand das verfallene Schloss zum Verkauf, Cardin griff zur Freude der Dorfbewohner zu und versprach, es wieder in altem Glanz erstehen zu lassen. Dann beschloss er, Lacoste in ein „Saint-Tropez der Kultur“ zu verwandeln. Seither veranstaltet er im Sommer ein Musik- und Theaterfestival in den Steinbrüchen neben dem Schloss, wohin er bekannte Stars – oft Freunde von ihm – auf die Bühne bringt. Doch dabei beließ er es nicht. Er kaufte auch ein Haus im Dorf, dann ein zweites, ein drittes. An die 50 Häuser gehören dem gebürtigen Italiener inzwischen. Nicht zur Freude aller in Lacoste, im Gegenteil: Viele Einheimische sind nicht gut auf den Modeschöpfer zu sprechen.
Lacoste habe sich verändert, sagen sie. An diesem Sonntag ist der Ort voller Menschen. Es ist heiß, über 30 Grad, und entlang der Rue Basse sind einige Verkaufsstände und Belustigungen aufgebaut. Die Kinder toben und kreischen: In einem riesigen mobilen Planschbecken rutschen sie einen Wasserlauf hinunter ins kühle Nass. Im Café de France genießen die Gäste den Blick von der Terrasse auf das Vaucluse-Gebirge auf der anderen Talseite. Die Dorfstraße führt steil berghoch, vorbei am Restaurant Le Sade bis zu der romanischen Kirche Saint-Throphime, die im 12. Jahrhundert erbaut wurde, und bis zur Burgruine, die den Ort überragt. Von dort hat man einen wunderschönen Blick über die ganze Weite der Provence.
Lacoste besitzt noch Teile der mittelalterlichen Stadtmauer mit stattlichen Portalen und viele schöne Häuser mit fein verputzten Fassaden. Touristen schlendern über das grobe Kopfsteinpflaster durch die engen Gassen des Bilderbuchdorfes. Manche tragen Mundschutz. Äußerlich ist Lacoste an diesem Sonntag ein sehr lebendiges Dörfchen.
Doch Anfang September, wenn in Frankreich die Ferien vorbei sind und die Schulen wieder öffnen, soll es in Lacoste ganz anders aussehen. Dann ist das Dorf tot, beklagen viele der rund 400 Einwohner, die in Lacoste ihren Erstwohnsitz haben. All die Häuser, die Pierre Cardin gekauft und wunderbar in Stand gesetzt hat, stehen leer. Keines von ihnen wurde vermietet, weder an Händler noch an neue Bewohner. Ein entvölkertes Museumsdorf wolle der Modeschöpfer aus Lacoste machen, klagen die Provenzalen. Und er mache es den Leuten leicht: Er wedele mit den Geldscheinen und zahle selbst für die erbärmlichsten Immobilien mal eben den dreifachen Preis über Wert. Die Bäckerei gibt es nicht mehr, dort lässt der Modeschöpfer heute Luxusmöbel ausstellen. Das Restaurant Le Sade gehört ihm ebenfalls. Selbstherrlich walte er in Lacoste, starte eigenwillig seine Bauvorhaben und hole sich oft erst im Nachhinein die notwendige Baugenehmigung – auch das sind Klagen seiner Nachbarn. Den Golfplatz, den Cardin im benachbarten Bonnieux bauen wollte, haben sie bisher verhindert.
Cardin selbst versteht die Aufregung nicht. Im Gegenteil: In vielen Interviews, etwa mit dem Fernsehmagazin „L’oeil du 20h“ vom 28. August 2019, zeigt er sich verbittert über die Undankbarkeit der Menschen. Er habe 30 Millionen in Lacoste investiert, den Ort gerettet, die ganze Kanalisation erneuert, die Straßen, Fassaden neu gemacht. Aus Spaß? Nein, für das Dorf, sagt er. Bis heute habe sich aber niemand dafür bedankt, das sei hart. „Les petites gens“ – „die einfachen Leute“ oder „Kleingeister“ nennt er die Menschen in Lacoste, was das Klima auf der anderen Seite nicht gerade milder stimmt.
Aber er nicht allein verantwortlich für die Situation. Schon seit über 30 Jahren ist eine US-amerikanische Kunstschule im Ort ansässig, die mehrere Häuser in Lacoste besitzt. Und nicht wenige Immobilien in und um Lacoste sind Zweit-, Dritt- oder Viertwohnsitze, die manchmal nur einen Monat im Jahr bewohnt werden. Und da ist Lacoste nicht alleine: Überall in der Region ist der Ausverkauf der Provence zu beobachten. Im malerischen Gordes, das Lacoste von der gegenüberliegenden Vaucluseseite herübergrüßt, sind 51 Prozent aller Häuser und Wohnungen Ferienresidenzen. Die Einzelhändler dort haben einer nach dem anderen geschlossen, auch der letzte Metzger hat vor einiger Zeit ein Schloss vor seine Tür gehängt. Stattdessen sind Immobilienmakler und Galerien in die frei gewordenen Räume gezogen.
Eigentlich nichts Neues. Das ist eine Entwicklung, die über den Erdkreis - von Sylt bis New York - zu beobachten ist: dass sich die „petites gens“, die einfachen Leute, das einfache Leben an den schönen Orten der Welt nicht mehr leisten können. Bleibt anzumerken, dass die weitere Entwicklung in Lacoste doch noch spannend werden könnte. Denn Pierre Cardin hat immerhin gerade seinen 98. Geburtstag gefeiert. Wer eines Tages sein Erbe übernimmt, das dürfte auch die Menschen in Lacoste interessieren.