Im Pankratius-Weg, 1. Mai 2020
Die Eisheiligen kommen. Daran muss ich denken, wenn wir gerade durch den kleinen Pankratiusweg spazieren. Pankratius, Bonifatius, die kalte Sophie… so richtig kann ich mir die kalten Mai-Heiligen nie merken. Passionierte Gärtner werden sie bestimmt besser kennen. Wie sich Pankratius in diesen idyllischen kleinen Landweg verirrt hat, erscheint zwar erstaunlich, aber nicht ungewöhnlich: In Frankreich, in dem seit 1905 die Trennung zwischen Kirche und Staat als Gesetz festgeschrieben ist, verweisen noch immer viele Straßen- und Ortsschilder auf die christliche Geschichte des Landes. Dass St. Pancrace für die Bewohner des kleinen provenzalischen Städtchens aber mehr war als ein meteorologischer Fingerzeig, darüber bin ich erst jetzt in einem Artikel der Lokalzeitung gestolpert. Und dabei gibt es durchaus einen Verweis in die heutige Zeit.
Der Pankratius-Weg ist ein kleiner, unspektakulärer Landweg. Nur eine Handvoll Häuser inmitten großer Gärten links und rechts. Dazwischen Apfelplantagen, auch große Gemüsegärten. Munter sprudelt ein kleiner Kanal entlang des Weges, gelbe Iris säumen das Ufer; der Graben auf der anderen Straßenseite ist sumpfig. Das Gras am Wegrand steht kniehoch. Früher gab es eine Reihe großer Plantanen, doch sie wurden kürzlich abgesägt, um die Holzstümpfe liegt noch Sägemehl. Nur selten rumpelt ein Auto über den groben Asphalt. Vom ländlichen Pankratiusweg bis zur Ortsmitte von L’Isle-sur-la-Sorgue sind es wohl noch vier Kilometer.
Dort, in einer Kapelle der barocken Kirche Notre-Dame-des-Anges, hängt eine Darstellung des Heiligen. Denn Pankratius, ein römischer Märtyrer, der laut Legende 305 in Rom gestorben sein soll, war einer von drei Schutzheiligen von L’Isle-sur-la Sorgue. Bei Krieg, Pest und Cholera, Krankheit, Hunger und anderen Drangsalen haben die Menschen ihn über die Jahrhunderte aus tiefster Not angerufen – das verbindet ihn irgendwie doch mit der heutigen Zeit.
Auf der Darstellung in der Kirche steht er mit Rochus und Laurentius, den beiden anderen Schutzheiligen der Stadt, zu Füßen einer himmlischen Madonna. Es ist dieses Bild, vor dem sich die Provenzalen des Städtchens niedergeknieten, den Blick zu den Heiligen erhoben, und Hilfe erflehten. Zum Beispiel 1636, als die Schwarze Pest über Europa hinwegfegte. L’Isle-sur-la-Sorgue blieb wunderbarerweise von der Epidemie verschont, wie der Lokalhistoriker Didier Vergne in „La Provence“ in Erinnerung ruft. Die Bürger dankten es damals ihrer Madonna und den Schutzpatronen, indem sie ein Öllicht vor dem Bild entzündeten mit dem Gelübde, immer genügend Öl zu spenden, damit die Flamme niemals verlöschen sollte. In den Wirren der Französischen Revolution geriet dieses Gelübde allerdings in Vergessenheit, 1789 erstarb die Flamme. 1837 machte die Cholera dann keinen Umweg um L’Isle-sur-la-Sorgue. Und die Provenzalen wussten anscheinend, warum: Die Kerze wurde wieder neu entzündet. 1854, als die Cholera noch einmal in die Provence zurückkehrte, kam die Stadt erneut glimpflich davon. Zum Dank dafür ließen fromme Gläubige sogar noch eine Marienstatue fertigen. 30 Männer errichteten die gusseiserne Figur, 2,25 Meter groß und 400 Kilo schwer, am 24. Oktober 1875 auf einer Kreuzung. Aber schon 29 Jahre später wurde sie wieder abgebaut: Sie behinderte aus Sicht der Stadtoberen den wachsenden Verkehr. Moderne Zeiten brachen an! Die Marienstatue fand in der Kirche einen neuen Platz.
Anders als zu Zeiten von Pest und Cholera ist die Kirche während der Corona-Pandemie heute menschenleer. Es herrscht noch Ausgangssperre, Gottesdienste finden deshalb keine mehr statt. Nur an drei Tagen für eine Stunde ist es Besuchern erlaubt, die Kirche zu betreten. Sie müssen Mundschutz tragen und sich am Eingang die Hände desinfizieren. Und natürlich Abstand halten. Aber groß scheint das Gedränge dort sicher nicht zu sein. Oder gibt es doch noch den einen oder anderen, der heute noch um Beistand von oben bittet? Nichts ist mehr, wie es war, die Zeiten haben sich mit Corona doch geändert – das werden die Heiligen denken, wenn sie auf die Gläubigen mit Mundschutz hinunterblicken.
Am 12. Mai wäre Gelegenheit, Pankratius zu gedenken. Das ist sein Namenstag. Die Gärtner kennen zumeist noch die alte Bauernregel: „Wenn’s an Pankratius gefriert, so wird im Garten viel ruiniert.“ Schauen wir mal.