Erinnerungen an eine tolle Frau, Februar 2020

 

Wenn man das Leben als eine Reise begreift, dann wächst das Fotoalbum mit den Reiseberichten jeden Tag. Wir sind in einen Bus eingestiegen und fahren voran. Die Reisegesellschaft, das ist die Lebensgemeinschaft mit all den Menschen, mit denen wir den gleichen Weg haben. Immer wieder hält der Bus, neue Mitreisende steigen ein. Andere steigen aus. Manchmal fällt der Abschied leicht, manchmal schwerer. Manchmal ist er endgültig. Wie jetzt bei Heidrun. Ihr soll dieser Text gewidmet sein.

Wie geht dieses Leben manchmal seltsame Wege! Oder, um im Bild zu bleiben: Was fährt dieser Bus merkwürdige Kurven, was macht er für ungeplante Stationen. Eigentlich wollte Heidrun sich von Berlin aus in den nächsten Tagen auf den Weg zu uns machen. Stattdessen fahren wir nun in die Gegenrichtung, nach Berlin, um sie zu beerdigen. Ein merkwürdiges Timing. Es schmerzt.

Der Reisebericht, den Heidrun hinterlässt, ist spannend und abenteuerlich. Zu gerne haben wir immer wieder in diesem Buch geblättert und uns von ihr daraus vorlesen lassen. In den Wirren eines Krieges wurde sie in einer fernen Welt in Ostpreußen geboren. Mit ihrer Mutter und den kleinen Brüdern erlebte sie als kleines Mädchen die Flucht in den Westen. Von den Grausamkeiten dieser Reise hat sie wenig erzählt, nicht von den vielen Toten, die sie gesehen hat. Doch manchmal bedarf es keiner Worte, um sich die Ereignisse auszumalen. An Bord eines Schiffes auf der Ostsee sah sie am 30. Januar 1945 die Wilhelm Gustloff untergehen, an die 9000 Menschen sollen dabei gestorben sein. Knapp sechs Jahre war sie damals. Die Bilder von dieser Schiffstragödie trug sie noch 75 Jahre mit sich herum. Nie wieder setzte sie einen Fuß auf ein Schiff.

Ihre Heimat wurde Berlin. Doch in dieser Stadt wurde sie eine ständige Reisende zwischen Ost und West. Sie war gerade 22 Jahre alt, als die Mauer gebaut wurde. Wieder ein ungeplanter Reisestopp: In jener historischen Nacht war sie gerade bei ihrem Verlobten im Westen. Dort blieb sie – während ihre Eltern und Brüder fortan in Ostberlin lebten. Immer wieder erzählte sie von den unzähligen Fahrten über die Grenze, von den Erlebnissen mit den Grenzsoldaten. Der Grenzübergang wurde für sie monatliche Routine. Es herrschte Kalter Krieg, Berlin war der Brennpunkt dieser weltpolitischen Achse zwischen den Blöcken. Und im Kleinen, im Alltag der großen Ereignisse, pendelte Heidrun zwischen diesen beiden Welten hin und her. Es war wohl auch diese schmerzende Trennung, die sie gerade nach der Wende und dem Mauerfall immer darüber wachen ließ, dass die Familie bei ihr einen steten lebendigen Treffpunkt fand.

Dass sie auf tragische Weise schon kurz nach ihrer Hochzeit ihren Mann durch einen Arbeitsunfall wieder verlor, ist eine andere traurige Geschichte. Seitdem stand bis zu ihrem Lebensende jeden Tag eine frische Rose neben seinem Foto auf ihrem Schreibtisch.

Wenn ich an Heidrun denke, denke ich an eine starke und selbstbestimmte Frau. An eine schöne und erotische Frau. Eine Frau, die gut allein sein konnte, aber doch ebenso die Begleitung interessanter Menschen und Männer schätzte. Sie legte großen Wert auf gutes Essen und freute sich am meisten auf den süßen Nachtisch. Wo sie war, duftete es nach Rosen. Sie liebte die Kunst und ging gerne auf Reisen, um die Welt zu sehen. Denn sie war neugierig und immer offen für Neues. Und ich kannte wenige Menschen, die anderen gegenüber so großzügig und großherzig waren.

Jeden meiner Reiseberichte las und kommentierte sie. Dieser ist der erste, den Heidrun nun nicht mehr liest. Am 19. Februar ist sie gestorben. Aber dennoch habe ich beim Schreiben das Gefühl, dass sie mir über die Schulter sieht und jedes Wort mitliest…

Gute Reise, Heidrun, wo auch immer diese Reise nun hingeht.

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