Weihnachtszeit in Bonnieux, Januar 2020
Über Nacht hat es gefroren. Raureif liegt auf dem Gras, bei jedem Ausatmen entsteht eine Nebelwolke vor dem Gesicht. Aber die Sonne schiebt sich langsam mit warmen Strahlen durch den Morgendunst, bis der Himmel klar und blau ist. An diesem typisch kalten Dezembertag ist der Ausblick von Bonnieux aus unbeschreiblich. Das typisch provenzalische Bergdorf liegt auf einer Bergkuppe des Luberon, und von dort sieht man weit von den ockerfarbenen Dächern des Dorfes über die Weinfelder im Tal bis hin zum Mont Ventoux, dem höchsten Gipfel des Vaucluse-Gebirges auf der anderen Talseite, auf dem heute sogar Schnee liegt. Immer höher führt die schmale und gewundene Dorfstraße durch verwinkelte und enge Gassen, und schließlich müssen wir noch 87 Treppenstufen über eine grobe, unebene Steintreppe steigen, bis wir ganz oben stehen. Auf diesem höchsten Punkt steht, umgeben von imposanten Zedern, die Alte Kirche (Vieille oder Haute Église). Für diesen Ausblick hat sich der Aufstieg gelohnt!
Einige Amerikaner stehen neben uns an der Steinmauer und telefonieren. „You’re going to Hollywood today?“ fragt die Frau im breiten Amerikanisch. Wir müssen etwas lachen. Hollywood, das klingt von hier aus nach einem anderen Stern.
Die Eingangstür der Alten Kirche, die für gewöhnlich nur noch zu besonderen Anlässen öffnet, steht noch bis Mitte Januar weit auf. Und wir sind längst nicht die einzigen, die eintreten. Die schlichte und kleine romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert ist ungewöhnlich geschmückt. Efeugirlanden mit grünen Bommeln sind von der einen Kirchenseite zur anderen gespannt. Neben dem grünen Weihnachtsbaum hängt ein riesiges Kreuz aus Stroh.
Doch die meisten Besucher marschieren zielstrebig nach vorne, wo vor dem Chor eine weihnachtliche Krippe mit großen Figuren steht. Maria, Josef und das Kind im Stroh, Kuh und Esel und die Hirten – ganz so, wie sie in vielen Kirchen in der Weihnachtszeit zu finden sind. Erst hinter der Säule hat die große provenzalische Weihnachtskrippe ihren Platz. Und was für eine Krippe! Viele hunderte Santons, die typisch provenzalischen Krippenfiguren, sind in einer Miniaturlandschaft in Szene gesetzt.
Der Künstler dieser außergewöhnlichen Krippe ist Vincent Gils. Der 41-Jährige arbeitet als Antiquar in seinem Heimatdorf und ist zudem einer der letzten Glöckner des Luberon. Schon als kleiner Junge hat er sich um die Santons in der Kirche gekümmert. Daraus entwickelte sich mehr als ein Hobby. Mit den ersten eigenen Krippenfiguren begann er, seine eigene Weihnachtskrippe zu gestalten, die er nun schon seit über 20 Jahren in der Alten Kirche aufbaut. Mit jedem Jahr kommen neue Figuren und neue Kulissenelemente hinzu. 15 Meter misst die Krippenlandschaft inzwischen. Und fast zwei Wochen braucht Vincent Gils, um sie – mit Hilfe seines Vaters – in Szene zu setzen.
Die Santons sind eine provenzalische Spezialität. Als in den Wirren der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts die Kirchen geschlossen wurden, wollten die Provenzalen nicht auf ihre Krippen verzichten. So bastelten sie zunächst aus Brotteig, später aus Ton ihre eigenen kleinen Krippenfiguren, bemalten sie mit Wasserfarben und stellten sie in ihre gute Stube auf. Daraus entwickelte sich ein eigenes Kunstgewerbe.Im Mittelpunkt der provenzalischen Weihnachtskrippe steht das typische traditionelle Dorf von einst, wo jeder Bewohner – Mensch und Tier – seinen Platz hat. Das alltägliche Leben findet so rund um die Krippe statt: Es gibt den Brunnen, den Dorfbackofen, die Hundehütte, den Taubenschlag, die Mühle und die Olivenbäume. Die Bewohner präsentieren sich in all ihren Berufen: der Bäcker, der Fischer mit seinem Netz, die Knoblauchverkäuferin und der Dorfnarr gehören zu den ganz typischen Figuren, die in keiner Krippe fehlen dürfen.
Vincent Gils hat mit seiner Krippe vor allem seiner Heimat ein Denkmal gesetzt. Die typischen Steinmauern, Häuser, Kirchen, die bestellten Felder, der Wein und Lavendel, das ist Bonnieux, der Luberon, die Provence. Ein Wasserrad dreht sich in dem kleinen Wasserlauf. Die Dorfbewohner treffen sich, in traditionellen Gewändern des 19. Jahrhunderts gekleidet, vor dem Bäcker oder nebenan, beim Metzer, oder im Bistro zu einem Pastis. Davor, auf einem freien Platz, tanzen die Frauen im Reigen die Farandole, dahinter hängt eine Frau ihre Wäsche auf die Leine. Auf dem Teich schwimmt ein Schwan, eine fröhliche Prozession trägt die Madonna durch die Straßen. Ein Maler steht mit seiner Staffelei in einem Lavendelfeld. Es gibt so viele kleine Details, man muss schon genau hinsehen, um all die liebevollen Kleinigkeiten zu entdecken. Wir beugen uns ganz tief hinunter zu den „Kleinen Heiligen“, wie die Santons übersetzt heißen, und staunen über die Detailfreude des Künstlers und die Lebendigkeit der Figuren.
Das letzte Mal, dass wir uns wie Riesen fühlten in einer Welt im Kleinformat, das war im Miniatur Wunderland in der Hamburger Speicherstadt, der größten Modelleisenbahnanlage der Welt. Aber auch das Miniatur Wunderland ist in diesem Moment in dieser mittelalterlichen Kirche so weit weg wie Hollywood. Immerhin: Die Weihnachtskrippe von Vincent Gils wird in jedem Jahr größer und findet immer mehr Bewunderer (von Tausenden berichtet die Lokalzeitung). Das hat sie – wenn auch in anderen Dimensionen - mit dem Miniatur Wunderland gemein. Fehlt eigentlich nur die Eisenbahn…