Mutter kommt zu Besuch, Oktober 2019
Jede Reise ist ein Abenteuer. Wie komme ich von A nach B? Wir haben uns längst daran gewöhnt, dass wir mit dem Flugzeug in kürzester Zeit alle Punkte dieser Erde erreichen können. Doch ob zwischen A und B Meere und Kontinente liegen oder nur einige Busstationen, unsere Fortbewegung hängt von vielen Faktoren ab. Und die meisten davon sind menschlich.
Mutter hat sich angesagt. Gegen 21 Uhr soll sie mit dem Zug im benachbarten Provinzstädtchen eintreffen. Doch schon am frühen Nachmittag kommt ihre erste alarmierende WhatsApp: Ihr Zug stehe in Straßburg. Kein Grund zur Sorge, da wird die Lok umgekoppelt, schreiben wir zurück.
Als Mutters Hochgeschwindigkeitszug, der TGV, nach zwei Stunden immer noch in Straßburg steht, ahnen wir, dass der Abend länger wird. Ein Leitungsschaden, sagt Mutter. Dann kommt irgendwann die gute Nachricht, der Zug bewegt sich wieder. Wir suchen im Internet auf der französischen Bahnseite: Die Ankunft ist nun gegen Mitternacht angekündigt. Wenig später: „Jetzt gibt der Lokführer alles, wir sind richtig schnell“, schreibt Mutter. Die Ankunftszeit hat sich auch auf 23.06 Uhr verkürzt. Wir sind wieder frohgemut.
Um 21 Uhr summt das Handy: „Wir sind in Paris! Wir müssen alle aussteigen und hier übernachten!“
Paris? Das ist definitiv die falsche Richtung. Wir rufen Mutter an. Was haben sie denn im Zug durchgesagt? Die Durchsagen seien alle auf Französisch gewesen, sagt Mutter. Will sagen, sie hat nur Bahnhof verstanden. Und den vielen Deutschen, die mit ihr im Abteil saßen, sei es genauso gegangen. „Beruhige dich, die werden das am Bahnhof schon regeln.“ Was soll man sonst sagen, wenn man mehr als 700 Kilometer entfernt sitzt und nicht weiß, was jetzt das richtige ist.
Mit rund 500 Mitreisenden stellt sich Mutter also am Bahnhof Gare du Nord in einer Schlange vor einem Schalter. Dort soll es Hotelgutscheine geben. Jemand drückt ihr einen Gutschein für die Pariser Metro in die Hand. Zweieinhalb Stunden steht sie an und wartet. Gerüchte machen die Runde. Mutter macht mit dem Handy Fotos und schickt sie uns. Viele Menschen stehen da, eine müde Masse, alle sehen ratlos aus. Hosen, Schuhe, Taschen vor ihr. Ein Mann hält eine Frau im Arm, sie drückt ihren Kopf an seine Schulter. Dann ein Foto mit Mutters Gepäck: Ihr Koffer und die schwere Tasche mit der bestellten Fleischwurst und dem Fleischsalat. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen, weil sie die Tasche jetzt ganz allein schleppen muss. „Die werden euch schon sagen, in welchen Hotels ihr übernachten könnt“, beruhigen wir sie - und uns. Vorsichtshalber formulieren wir schon mal ein paar Sätze auf Französisch, die sie am Schalter zeigen kann: „Ich möchte gerne in ein Hotel in der Nähe vom Bahnhof Gare de Lyon, weil ich morgen weiter in den Süden fahren muss. Bekomme ich auch einen Taxi-Gutschein? Ich habe Probleme mit dem Knie und kann nicht so weit laufen.“
Doch dann macht schon die nächste Nachricht in der Menge die Runde: Jeder Reisende müsse sich selber um seine Unterkunft kümmern. Mutter war erst einmal in Paris. Sie kann kein Französisch. Sie ist nicht mehr die Allerjüngste. Und es ist 22 Uhr. Wo soll sie jetzt hin? Wir hängen uns ans Telefon und rufen in allen Hotels rund um den Bahnhof Gare de Lyon an. Mutter hat inzwischen eine Schicksalsgefährtin gefunden. Die Frau mit Kind, die im Zug neben ihr saß, will mit ihr gemeinsam auf Hotelsuche gehen. Die Frau spricht auch kein Französisch. Zwischenzeitlich haben wir ein Einzelzimmer ausfindig gemacht. Die beiden beratschlagen – zusammen oder doch nicht? Das dauert dem Hotelmenschen am Telefon zu lange, er legt einfach auf.
Die nächsten Hotels sind alle voll. Schließlich ist ein netter Rezeptionist in der Leitung. Ich erzähle von Mutter, von dem TGV, der nicht mehr fährt, von der Schicksalskameradin mit Kind. Und dass sie doch alle irgendwo noch schlafen müssen. Ja, da gebe es noch ein großes Zimmer, sagt er. Ein Vier-Bett-Zimmer, aber teuer. 320 Euro für die Nacht. Auch schon egal. Wir buchen. Er fragt nicht nach dem Namen, fällt mir später auf. „Ich bereite das Zimmer schon mal vor“, sagt er und legt auf.
Und während Mutter mit ihrer neuen Freundin im Taxi durch das nächtliche Paris fahren, reservieren wir noch den Zug für den nächsten Tag. Er startet um 6.20 Uhr, Gare de Lyon. Dann meldet Mutter sich wieder. Das Zimmer sei sehr stilvoll, zu dritt hätten sie es nun bezogen. Der Mann an der Rezeption sei sehr nett gewesen. Nun würden sie sich gleich hinlegen. Alles bestens also. Es ist halb eins. Um halb fünf müssen sie wieder aufstehen.
Um kurz vor neun kommt sie am nächsten Morgen pünktlich an unserem Bahnhof an. Am Bahnhof treffen wir noch eine Freundin, die in den TGV in die Gegenrichtung steigt – sie will ihre Familie in Frankfurt besuchen. Gute Fahrt, wünschen wir ihr. Als wir später mit Mutter glücklich beim Frühstück sitzen, schickt sie eine WhatsApp. Ihr Zug steht irgendwo vor Straßburg. Laut Durchsage sei der Lokführer ohnmächtig geworden.