Morgendliche Begegnungen, September 2019
Jeden Morgen komme ich an dem verwunschenen Garten vorbei. Er ist natürlich nicht wirklich verwunschen, aber wer weiß das schon? Eigentlich ist es eher ein wilder Garten mit Buchsbaum und Sträuchern, Unkraut und trockenem Gras und einer Terrasse. Durch die Gitterstäbe spähe ich durch rankendes Grün hinein und muss die Augen zukneifen, denn die frühe Sonne scheint mir direkt ins Gesicht. Wie ein riesiger Scheinwerfer setzt sie die Terrasse und den Garten in helles Licht, so dass alle Dinge dort einen Heiligenschein bekommen. Auch der Hund, der auf der Terrasse liegt, wirkt der Welt entrückt. Wenn er mich sieht, springt er auf und läuft zum Gitterzaun neben der Einfahrt. Ganz ernst und aufmerksam schaut er mich durch die rostigen Gitterstäbe an. Ich sage „hallohallo“ und gehe weiter. Manchmal drehe ich mich noch einmal um und bin gerührt, weil der Hund mir nachsieht.
Zuerst hat der Hund noch gebellt. Er kam immer an die Straßenmauer gelaufen, die unter dem Gitter schon bröckelt. Efeu wächst über die Steine und klammert sich an die Gitterstangen. In der Mauer ist ein Loch, aus dem Blätter wachsen. Von dort hatte der Hund einen Blick auf die Straße und bellte mir hinterher, wenn ich morgens auf dem Weg zum Bäcker vorbeikam. Er hatte ein schönes Hundegesicht, ganz weich, wie ein Beagle. Ich sagte beschwichtigend „hallohallo“, mit leiser Stimme, und hörte ihn noch eine Weile bellen. Er ist nicht der einzige Hund, der mich auf meinem morgendlichen Weg hinter hohen Zäunen so begrüßt.
Irgendwann ist der Hund still geworden. Erst ist es mir gar nicht aufgefallen. Ich dachte, er hat mich verpasst und guckte neugierig durch den Gitterdraht in den verwunschenen Garten. Da lag der Hund zusammengerollt auf den Steinfliesen der Terrasse und badete im Sonnenlicht. Er hob den Kopf, dann raffte er sich auf und kam nach vorne. Er hatte ein ganz wuscheliges Fell, das gar nicht zu einem Beagle passt. Ich sagte „hallo, du bist ja ein Süßer“ und ging weiter. Und er sah mir wieder hinterher.
Das wurde unser Ritual. Jeden Morgen freute ich mich schon auf den verwunschenen Garten. Hinten, auf der Terrasse, stehen kleine und große Blumentöpfe, ein kleiner Eisentisch und ein paar Stühle, auch eine große, steinerne Vase. Eine Platane breitet schützend ihre grünen Äste über den kleinen Platz aus. Hin und wieder saß ein alter Mann in einem der Stühle, der Hund zu seinen Füßen. Einmal blickte der Mann auf und nickte mir zu. Ich fühlte mich ein bisschen ertappt und ließ meinen Blick ganz uninteressiert wieder zur Seite gleiten. Zu spät bemerkte ich den Briefkasten, der am Zaun direkt an der Einfahrt hängt. Ich stieß direkt mit dem Kopf dagegen. Dass muss ziemlich dumm ausgesehen haben. Auf dem Briefkasten liegt immer der Schlüssel. Diese Menschen haben vielleicht ein Vertrauen!, denke ich dann jeden Morgen, wenn ich daran vorbeigehe. Einmal entdeckte ich auch eine alte Frau in dem verwunschenen Garten. Sie hatte einen Kittel an, wie ihn meine Großmutter früher trug, und fegte die Terrasse.
Ein Hauch von Herbst liegt stets über dem verwunschenen Garten. Er ist so still, und manchmal meine ich, einen Seufzer zu hören, wenn ich vorbeikomme. Wie einen Nachhall schwingt längst vergangenes Leben durch die Gräser und Steine. Dann kann ich Kinderlachen hören. Und ich stelle mir vor, wie die Kinder auf der Terrasse spielten und mit dem Hund durch den Garten jagten. Die Frau, noch jung, stolperte über Spielzeug, das auf dem Boden lag, und schimpfte. In den Blumentöpfen unter den blauen Fensterläden wuchsen Erdbeeren und Tomaten. Und aus dem Kinderwagen, der in einer Ecke der Terrasse in der Sonne stand, krähte das Baby.
In den heißen Sommermonaten lag der Hund langgestreckt auf dem kühlen Steinboden. Und immer häufiger hat er mich gar nicht mehr bemerkt. Einmal habe ich ihn leise gerufen, bis er den Kopf hob und zu mir herübersah. Er starrte mich an, aber er rührte sich nicht. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass er ein alter Hund ist. Dass er vielleicht nicht mehr richtig hören kann.
Inzwischen wird es Herbst und die Bäume werfen lange Schatten. Zum ersten Mal spüre ich morgens einen kalten Hauch in der Luft. Die Sonne hat ihren hellen Schein verloren, sie taucht den verwunschenen Garten in goldenes Licht. Das Laub sammelt sich dort unter dem Eisentisch und im Gras. Ein Blumentopf ist im Wind umgefallen, Erde liegt auf dem Steinboden. Die Terrasse ist morgens leer. Den Hund habe ich schon lange nicht mehr gesehen.