Nach Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, Juni 2019
Ein Ausflug in die Camargue – wer denkt da nicht an weiße Pferde, schwarze Stiere und Rosaflamingos? Wir jedenfalls tun es. „Ihr müsst mir unbedingt ein Flamingo-Foto schicken“, hatte uns zuvor noch eine Freundin gebeten. Das Foto sind wir noch schuldig, denn wir sahen Stiere, Pferde, viele Reiher, Schwäne, aber Flamingos leider nicht.
Von Arles aus führt die Straße 35 Kilometer nach Süden durch ein flaches Land, das plötzlich gar nicht mehr nach Provence aussieht. Eher nach Spanien. Weiß getünchte flache Häuser und Reiterhöfe säumen den Weg. Unser Ziel ist Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, jener Ort an der Rhônemündung, an dem der christliche Legende nach einige Begleiter Jesu nach dessen Tod mit einem Boot gestrandet sein sollen. Darunter befanden sich die drei Marien, Maria Magdalena und die Mütter der Apostel Jakobus und Johannes, Maria Kleophae und Maria Salome. Die Apostelmütter blieben in Les-Saintes-Maries, ihre Reliquien werden in der Kirche Notre-Dame-de-la-Mer verehrt. Dass am 24. und 25. Mai alljährlich Roma und Sinti aus ganz Europa zu ihrer Wallfahrt ins kleine Les-Saintes-Maries strömen, hat aber vor allem mit Sarah zu tun, ihrer Schutzpatronin: Die dunkelhäutige Frau soll eine Dienerin der heiligen Marien gewesen sein, ihr wird heute als „schwarze Sarah“ in der Krypta gedacht. Am 24. Mai wird die mit Gold und Brokat geschmückte Statue in einer feierlichen Prozession gemeinsam mit den Reliquienschreinen der Marien ins Meer getragen.
An diesem Sonnabend sind die Straßen der kleinen Stadt aus einem ganz anderen Grund gut gefüllt. Es ist das „fête votive“, Patronatsfest sozusagen, mit Kirmes, Karussells, Autoscooter und Rummelbetrieb. Das entdecken wir allerdings eher zufällig. Auf unserem Weg zur Kirche staunen wir über die vielen Menschen, die sich an einer Kreuzung zwischen Rathaus und dem Fremdenverkehrsamt versammelt haben und auf irgendetwas zu warten scheinen. Die Verkäuferin im benachbarten Souvenirladen klärt uns auf: Gleich sollen die schwarzen Stiere zu den festlichen Stierkämpfen in die Arena getrieben werden. „Abrivado“ heißt diese Ankunft der Stiere, die von ihren Hütern, den „gardians“ hoch zu Pferd, von ihren Weideflächen durch die Straßen zur Arena begleitet werden.
Das Spektakel lässt auf sich warten, ein Polizist leitet den Verkehr um, manchmal kommt ein Polizeiwagen vorbei und spricht mit ihm, und die Spannung steigt. Nach über einer halben Stunde hören wir schließlich das näherkommende Klappern der Hufe auf dem Asphalt und die ersten Reiter auf ihren mächtigen Pferden donnern an uns vorbei. Erst präsentieren sich die gardians mit verschiedenen Ritten, dann nehmen sie die schwarzen Stiere in ihre Mitte. Die kleinen Stiere mit ihren gebogenen Hörnern verschwinden fast hinter dem dichten Wall der großen Pferdeleiber - und dann sind sie auch schon vorbei. Die Arena liegt gleich um die Ecke. Dort finden an diesem Tag noch einige Kämpfe statt, bevor die Tiere am Abend wieder durch die Straßen zurück auf die Weiden getrieben werden. Und, das ist gute Nachricht: Sie werden diesen Tag alle überleben. Bei der südfranzösischen Variante des Stierkampfes geht es den Kämpfern allein darum, Trophäen von den Hörern der Stiere zu ziehen.
Durch die schmalen Gassen geht wir weiter Richtung Kirche. Früher war Les-Saintes-Maries vielleicht mal ein idyllischer Fischerort, heute reihen sich Souvenirläden, Restaurants, Eisverkäufer und Schuhgeschäfte aneinander. Eine Frau mit langem Rock will uns eine Marienmünze schenken und aus der Hand lesen, wir lehnen dankend ab. Die Worte, die sie daraufhin zum Abschied murmelt, klingen eher nach einer Verwünschung. Da steht schon die nächste Frau an der Ecke, mit der gleichen Münze in der Hand. In der Kirche drängen sich die Menschen durch die Gänge und in die Krypta, wo viele hundert Kerzen vor der Statue der schwarzen Sarah mit ihrem schimmernd-blauen Mantel und der glitzernden Krone brennen. Immer wieder treten Besucher vor sie hin, um sie zu berühren. Das Geld für das Sandwich in der Brasserie neben der Kirche hätten wir besser gespart, aber das Bier erfrischt.
Durch das Getümmel der Stadt marschieren wir noch mal zum Strand, bevor wir unser nächstes Ziel ansteuerten: die Tiki III. Das Schaufelradboot startet an einem Campingplatz fünf Kilometer von Les-Saintes-Maries entfernt auf der Mündung der Petit Rhône. Die Werbung verspricht für die eineinhalbstündige Fahrt in Richtung Landesinnere facettenreiche Eindrücke abseits der großen Straße. Manaden sollen wir sehen, also Pferde- und Stierfarmen, und natürlich Flamingos. Das erste Versprechen ist schnell erfüllt: Schon nach wenigen Flusskrümmungen und vorbei an beschaulichen Holz-Cabanen, vor denen schnittige Yachten im Wasser dümpeln, kommen wir zu einer Farm, auf der eine Reiterin wie zufällig gerade die schwarzen Stiere ans Ufer treibt. Das gehört wohl zur Touristen-Inszenierung dazu, aber es ist charmant gemacht und die Tiere werden nicht künstlich vorgeführt.
Was diese Schifffahrt wirklich ausmacht, ist die Ruhe auf dem Wasser. Umgeben vom Orchester der Vögel erliegen alle an Bord diesem mächtigen Flusszauber, und selbst die aufgedrehte Gruppe eines Junggesellinnenabschieds verharrt schon bald in der lauten Stille. Durch das wilde Schwemmland schlängeln sich Wasseradern, dahinter glänzt grün das Grasland bis in den weiten Horizont. Ich muss an Norddeutschland denken, an die Strecke zwischen Hamburg und Sylt, an das platteste Schleswig-Holstein, wenn sich der Himmel hoch und weit übers Land dehnt. Tote Äste und Holzstämme ragen aus dem seichten Wasser der Böschung empor, riesige Reiher haben sich darauf niedergelassen. Dahinter erstrecken sich immer wieder Wiesen, auf denen schwarze Stiere und die angeblich noch wilden Camarguepferde weiden. Die Idylle dieses Nachmittags nimmt alle gefangen. Nur Flamingos erscheinen nicht auf dieser Naturschauspielbühne, dafür ziehen viele Möwen und Schwäne an uns vorbei.
Nach Röhricht und Tamariskenbäume, die im salzhaltigen Wasser prächtig gedeihen, säumen grüne Felder die Ufer. Der Kapitän erzählt, dass dort der bekannte Reis der Camargue angebaut wird, der zu 30 Prozent den französischen Verbrauch abdeckt. Hin und wieder überholte uns ein anderes Touristenboot und die Menschen winkten fröhlich zu uns herüber. Ewig hätten wir so weiter auf dem gemächlich dahintrudelnden Wasser in der Hitze des südfranzösischen Nachmittags weiterfahren können.
Auf der Rückfahrt Richtung Arles sehen wir im Vorbeifahren von weitem ein paar große Vögel in einer glitzernden Wasserfläche stehen. Waren das vielleicht Flamingos? Aber wir sind schon zu weit vorbei. In der Rückschau auf diesen Tag haben wir sie natürlich doch überall gesehen. Auf T-Shirts und Kissen, als Schwimmreifen und keck mit Hut als Staubfänger haben uns Flamingos angesehen. Wer sie lebendig beobachten möchte, muss ins Naturreservat: Im Parc Ornithologique de Pond de Gau sollen sie tatsächlich in großen Kolonien leben.
Tja, dann müssen wir wohl noch mal wiederkommen. Ehrlich gesagt, ich freu mich schon darauf.