Vor dem Tour Philippe, Juni 2019

 

Lebe deinen Traum! Heute sagt sich das so leicht. Jeder, der mit seinem Weg hadert und nicht weiß, wie er sein Leben richtig leben soll, bekommt das zu hören. Das hätte Philippe Audibert gefallen! Als er beschloss, seinem Bauchgefühl zu folgen und endlich sein Ding zu machen, sorgte das ordentlich für Aufsehen und Gerede. Er sei ein bisschen „fada“, so sagt die Leute damals – ein bisschen verrückt. Fada ist provenzalisch und hieß ursprünglich „von den Feen berührt“. Und vielleicht haben sie ihn ja berührt, die Wesen aus einer anderen Welt, vielleicht hatte Philippe einfach eine höhere Vision. Und so wollte er selbst hoch hinaus.

Philippe Audibert wollte einen Turm bauen. Einen, wie es ihn in seiner provenzalischen Heimat bisher noch nicht gab und bis heute nicht gibt. Philippe träumte nicht von der provenzalischen Variante des Turmbaus zu Babel, aber sein Bauwerk sollte doch ganz schön hoch in den Himmel wachsen. Jedenfalls so hoch, dass man das Meer sehen konnte. Das war sein Traum: das Meer sehen.

Philippe lebte im 19. Jahrhundert in Bonnieux, einem kleinen provenzalischen Dorf im Luberon. Das Dörfchen sieht aus wie ein ockerfarbenes Spielzeugdorf auf einer Hügelkuppe inmitten von Äckern, Weinfeldern und Wäldern. Wandert man von dort aus weiter hinauf zu den Gipfeln des Luberon, dann weitet sich der Blick über die Hochebene des Vaucluse-Gebirges, dahinter erhebt sich der kalkige Gipfel des Mont Ventoux. Der Wind hat vielleicht gerade die letzten Wolken verjagt, und an klaren Tagen sind dann sogar die Schneegipfel der Alpen zu sehen. Nach Süden hin sehen Wanderer auf dem Kamm der Berge bis hin zu den Vorbergen des Mittelmeers. Doch das hat Philippe Audibert nicht genügt. Er wollte mehr sehen. Er sehnte sich danach, über all die Weite hinweg von seiner Heimat aus das Mittelmeer glitzern zu sehen. Von seinem Turm aus wollte er das ganze Panorama von den weißen Gletschern der Alpen auf der einen Seite bis zum blitzenden Meer auf der anderen einfangen.

Tour Philippe1

Philippe Audibert war nicht irgendwer. Er galt, traut man den Quellen, die man heute über ihn findet, als talentierter Bildhauer. Sogar einen Bildhauerpreis, den Rompreis (grand prix de Rome de sculpture) bekam er für seine Werke verliehen. In Bonnieux, seinem Heimatdorf, braucht man nur zur Alten Kirche, der Vieille Église hochzusehen, um das Können des Künstlers zu bestaunen: Seine Madonna krönt dort bis heute den Glockenturm, die das Dächermeer überragt. Ja, auch dieses Werk geht in die Höhe. Vielleicht stand Philippe vor der Kirche und blickte zu seiner Madonna hinauf und in den tiefblauen Himmel – und in diesem Moment durchfuhr es ihn zum ersten Mal und er wollte einfach nur noch in das Blau eintauchen. Zu allen Seiten. Wer weiß?

Und wie das so ist mit Künstlern und Genies, sie gelten schnell mal als überspannt – oder von Feen berührt. Und weil er anscheinend auch als Konstrukteur Talent besaß, begann der Junggeselle 1885 auf dem Bergkamm über Bonnieux mit dem Bau seines Traums.

Wie hat Philippe Audibert gelebt? Ist er gereist? Wo hat er seine Inspirationen für den Bau gefunden? Darüber finden sich auf die Schnelle keine Informationen mehr. Sein Turm, der heute nach seinem Erbauer einfach nur „Tour Philippe“ heißt, passt jedenfalls so gar nicht in die Landschaft. Neumittelalterlich wird dieser Baustil beschrieben. Das Bauwerk könnte auch ein Minarett sein. Nur sehr langsam kamen die Bauarbeiten voran. Die Jahre verstrichen, und die Baukosten summierten sich. Auf der fünften Etage in etwa 30 Meter Höhe gingen dem Künstler offensichtlich die Luft und das Geld aus.

So blieb der Traum nur ein Traum. Mit 64 Jahren ereilte Philippe Audibert ein Schlaganfall und er starb. Sein Schwager erbte die Besitztümer des Künstlers und stoppte den Weiterbau. Der Turm blieb unvollendet. Einer anderen Quelle zufolge soll Philippe Audibert tatsächlich in seinem Turm abgehoben sein. Verlor er den Verstand? Er habe sich an seinem Turm aufgehängt, so 

Wie auch immer: Der Turm des Träumers steht noch immer im Herzen des Luberon. Ausgeschildert er nicht. Urlauber, die Richtung Zedernwald fahren, und Wanderer können ihn bestaunen, wenn er sich plötzlich unvermittelt auf der linken Straßenseite kurz vor dem Zedernwald aus dem Grün der Bäume erhebt. Zur Besichtigung ist er nicht freigegeben. Aber das Meer ist von dort oben noch sowieso noch nicht zu sehen. An guten Tagen mit weiter Sicht aber glitzert der Étang de Berre, die Meeresbucht nordwestlich von Marseille, am äußersten Horizont. Viel hätte wohlmöglich nicht gefehlt, bis der Traum Wirklichkeit geworden wäre.

 

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