Eine himmlische Mittagsstunde, April 2019
Blau. Der Himmel ist so tief blau an diesem Tag. Ich liege auf der Bank und blicke in die Unendlichkeit. Keine Wolke ist zu sehen. Nur feine Kondensstreifen durchziehen wie Wellenbrecher diese Ganzheit, wenn ein fernes Flugzeug mein Blickfeld streift. Der Flugzeugrumpf blinkt in der Sonne wie ein Stern in dunkler Nacht. Von wo es wohl kommt? Wohin fliegt es?
Je länger ich schaue, umso mehr überrollt mich dieses Blau. Wie viele Blautöne gibt es? Ist dieser Himmel azur- oder lapislazuli blau? Oder indigoblau? Je länger ich mich in dem Blau verliere, desto mehr verliert es seine Abgrenzungen. Ich bin im Blau.
Es hat etwas sehr Meditatives, einfach nur in den Himmel zu sehen. Als Kind konnte ich das stundenlang tun. Ich erinnere mich, dass ich auf der Schaukel in unserem Garten saß und schaukelte. Immer höher und höher. Wenn ich jetzt daran denke, höre ich die Schaukel quietschen, mit jedem vor und zurück rieben sich die Seile an der Stange. Ich habe mich ganz weit zurückgelehnt und nach oben gesehen. Der Himmel bewegte sich vor und zurück, vor und zurück. Wolken zogen vorbei, Flugzeuge winkten mir zu. Wann saß ich das letzte Mal auf einer Schaukel? Jetzt liege ich auf einer Gartenbank. Es ist Mittagszeit, die Sonne scheint - gerade die richtige Zeit, um ein paar Minuten zu dösen.
Die Farbe Blau beruhigt und entspannt, sagt man. Sie steht für Frieden und Harmonie. Und tatsächlich schlägt mein Herz ruhig und fest, während mir die Augenlider langsam zufallen. Im Judentum steht das Himmelsblau auch für Offenbarung, für Gott. Und stimmt es nicht, dass wir unbewusst immer noch in den Himmel sehen, wenn wir an Gott denken, auch wenn wir längst wissen, dass Gott doch überall ist? Und dass die Engelchen nicht hinter den Wolken sitzen und Plätzchen backen in der Weihnachtsbäckerei? Aber je länger ich hineinschaue in das unendliche Blau, desto geheimnisvoller wird es. Was verbirgt sich alles darin, was ich nicht sehe?
Ewig könnte ich so liegen und blausehen. Dabei kommt mir etwas in Erinnerung, was der Schauspieler Dietmar Schönherr mal in einem Interview gesagt haben soll. Schönherr hat seine letzten Jahre auf Ibiza verbracht. Was er denn den ganzen Tag mache, wurde er gefragt. Er sitze auf der Terrasse vor seinem Haus und blicke auf das blaue Meer und auf die Schiffe, die vorbeisegeln, sagte er. Und was er gerne noch in Zukunft tun würde, was er sich wünschen noch würde? Er möchte gerne noch viele Jahre vor seinem Haus auf der Terrasse sitzen und aufs Meer sehen, sagte er. Das klingt schön. Wenn mich jetzt jemand fragen würde, was ich irgendwann mal machen möchte, dann würde ich sagen: Ja, das möchte ich auch. Einfach blau sehen – in einen unendlichen Himmel, auf ein endloses Meer. Und meine Gedanken treiben lassen. Diese Stunde hier war schon mal ein guter Anfang.