Auf dem Tour d'Argent, L'Isle sur la Sorgue, 15. August 2015

 

Mariä Himmelfahrt ist in Frankreich Feiertag. In diesem Jahr ein Freitag. In L’Isle sur la Sorgue findet über das dadurch entstehende lange Wochenende zudem die Internationale Antiquitäten- und Trödelmesse statt, die zweimal jährlich Sammler von weither anlockt. Dazu bietet die Stadt ein sommerliches Feiertagsprogramm mit Bootswettkämpfen auf der Sorgue. Ein Grund also, einen Bummel durch die Stadt zu unternehmen. Und dabei einen ganz eigenen, unerwarteten Himmelsaufstieg zu erleben.

Um in den Himmel von L’Isle sur la Sorgue zu steigen, muss man entweder in den Kirchturm steigen. Oder in den Tour d’Argent – den Silberturm. Letzteres ist erst seit zwei Monaten möglich, denn der Turm wurde gerade erst umfassend restauriert: Was bisher ein schäbiges altes Mauerwerk war, an dem man achtlos vorbeiging, erweist sich nun als ein prächtiger mittelalterlicher Festungsturm mit einer stattlichen achteckigen Kuppe. Mitte des 12. Jahrhunderts wurde der Silberturm gebaut, und damit ist er wohl das älteste Bauwerk der Stadt. Die ursprüngliche Funktion mit quadratischem Grundriss ist bis heute umstritten, lange glaubte man, der Turm sei Teil der Stadtmauer gewesen. Das wurde inzwischen widerlegt. Vielmehr handelte es sich wohl um das Turmhaus und Machtsymbol eines aristokratischen Konsuls.

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Seit einiger Zeit ist die Stadt darum bemüht, ihre historischen Denkmäler zu sichern und das historische Zentrum wieder sichtbar zu machen. 2017 wurden deshalb die angebauten Nebengebäude des Tour d’Argent abgerissen. Das Erdgeschoss des Turmes verschwand hinter einer Bretterfassade. Lange war dort die Ankündigung für den Bau einer Camera Obscura zu sehen, die nach Plänen der Stadt in der ersten Etage eingerichtet werden sollte. Das wäre ein Publikumsmagnet gewesen! Aber davon war irgendwann nicht mehr die Rede – als unrealisierbar und eigentlich auch zu teurer erwies sich dieser Traum.

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2019 begannen auch die archäologischen Untersuchungen des Gebäudekomplexes. Dabei konnten viele Funde aus dem 12. bis 14. Jahrhundert gesichert werden, die sich in mittelalterlichen Abfallgruben auf dem Gelände fanden. Die Überbleibsel der Vergangenheit liegen nun in Glasvitrinen. Sie sind, nach Eröffnung des restaurierten Turms, in einer Ausstellung auf den verschiedenen Etagen zu sehen. Schalen und Kochtöpfe zum Beispiel, Nadeln aus Knochen, Holz- und Glasperlen, ja sogar Eierschalen und Fischreste, die einst nach dem Essen im Müll landeten, erhielten sich über die Zeit.

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Das ist spannend, aber der spannendste Teil kommt noch: Von der zweiten Etage aus führt nur noch eine kleine steile, unebene Steintreppe in der Turmwand nach oben, auf die Kuppel. Halbstündlich dürfen die Besucher in einer Gruppe hinauf: Als wir oben ankommen, schlägt die Kirchturmuhr gegenüber gerade 12 Uhr mittags und die Kirchenglocken beginnen zu läuten.

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Es ist so heiß, 40 Grad zeigen an diesem Mariä-Himmelfahrts-Tag die Thermometer. Aber oben auf der Kuppe weht ein leichter Wind und ich atme tief ein: Was für ein Ausblick! Was für ein Schauspiel! Meine kleine Welt plötzlich von oben gesehen. Wir blicken über die Dächer, die Ziegel auf den Dächern flirren grau, ocker und rot in der Mittagssonne. Am Horizont die Berge, der Luberon. Der Gipfel des Mont Ventoux liegt hinter eine Dunstwolke.

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Beim Blick nach unten sehen die weißen Zelte, in denen Kunsthandwerker rund um die Kirche ihre Waren anbieten, wie kleine Sandförmchen aus, zwischen denen die Menschen wie Ameisen hindurcheilen. Die Tische in den Cafés und Restaurants sind zur Mittagszeit gut belegt, Hunde bellen, Kinder spielen, doch keiner schaut zu uns hoch. Und wie grün ist es hier! Die Mauern der Stadt werden von einem grünen Mantel umarmt. Wir stehen still und staunen. Und die Glocken läuten.

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Das ist also unser Himmelsaufstieg. Nach oben ist noch Potential, zugegeben. Der Silberturm ist gerade mal 20 Meter hoch. Aber die reichen schon. Wie sagt man so schön? Manchmal müssen wir einfach nur den Blickwinkel ändern, um all das Wunderbare um uns herum zu sehen. Und um sich auch nach dem Abstieg für den Rest des Tages erhaben zu fühlen.

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