Nachruf auf eine Gans, L'isle sur la Sorgue, Mai 2025
Alles ist Energie. Alles fließt. Alles verändert sich, ständig. Und doch sind wir alle miteinander eins, verbunden, in Liebe. Das sagt sich so einfach, aber glauben kann ich es oft nicht. Und dann bringt das Leben mir plötzlich wieder ein besonderes Geschenk. Ein Geschenk, das sich im ersten Moment eher wie Trauer und Verlust anfühlt, und dessen Wert ich erst im Nachhinein bemessen kann. Denn Oscar ist gestorben.
Oscar war unsere Gans. Eigentlich war sie die Gans unseres Nachbarn, die immer wieder mal ihren Schnabel durch den Gartenzaun hielt und die Löwenzahnblätter fraß, die wir ihr hinhielten. Vor zwei Jahren konnte unser Nachbar Oscar nicht mehr behalten, und so wechselte er die Gartenseite und zog zu uns. Und unsere Hühner hatten einen neuen Chef. Sie brauchten ein Weilchen, um sich daran zu gewöhnen, dass da plötzlich von oben herab ein Schnabel sie zur Seite schieben konnte. Oscar aber fühlte sich bei ihnen gleich wie der Hahn im Korb, und da er zuvor mit den Hühnern des Nachbarn Stall und Wiese geteilt hatte, war ihm wahrscheinlich längst das Bewusstsein verloren gegangen, dass er eine Gans war.
Jeden Morgen wackelte Oscar fortan mit den Hühnern vom Hühnerstall quer über den Hof zur Hühnerwiese. Wenn es ihm nicht schnell genug ging, breitete er seine Flügel aus, als wollte er den Tag umarmen, und rannte in seiner höchsten Geschwindigkeit im Wackelgang voran. So brachte er jeden Zuschauer zum Lächeln. Während die Hühner sich auf der Wiese dann erst einmal auf die Getreidekörner im Gras stürzten, liebte Oscar sein Morgenbad: Er kletterte in sein Schwimmbecken, steckte den Kopf unter Wasser, kraulte auf der Stelle und widmete sich genüsslich der Federpflege. An manchen heißen Tagen verbrachte er fast ganze Tage in seinem Spa.
Oscar war eine schöne Gans. Zugegeben, mir fehlen die Vergleichsobjekte, denn Oscar war bisher die einzige Gans, mit der ich näher Bekanntschaft geschlossen habe. Aber jeder, der den Ganter sah, sagte, dass er schön sei. Diese orange Lidfalte rund um die Augen, in der gleichen Farbe wie der Schnabel. Das schöne graue Gefieder, der wuschelige Hals. Ziemlich schnell reagierte er auf seinen Namen: „Oscar!“ Dann schaute er und antwortete mit einem kehligen Gekrächze: „quaqua!“ Er war nicht verwöhnt: Am liebsten fraß er Gras und rupfte die Wiese. Und freute sich über Brotreste, die wir vorher in Wasser eingeweicht hatten. Wenn die Stücke noch zu trocken waren, nahm er sie in den Schnabel und zog sie selbst durch seinen Wassernapf hin und her, so lange, bis das Brot weich genug war.
Als Wächter war Oscar unschlagbar. Ja, besser als unser Hund, auch wenn der das nicht gerne hören wird. Jedes Auto, das vors Haus fuhr, jeder Fremde, der in der Nähe der Hühnerwiese erschien, wurde mit einem lauten Schnattern gemeldet. Sein Blick war wachsam, und oft sah er dabei so aus, als wollte er sich auf alles einen Reim machen, was um ihn herum geschah. Auf dem Nachhauseweg zum Hühnerstall warf er regelmäßig einen Blick in die offene Scheune und inspizierte nachdenklich alles, was dort aufgestapelt stand. Abends stand er lange vor seiner Wassertränke und schaute in die Nachbargärten – so lange, bis nichts mehr in der Dunkelheit zu sehen war. Erst dann watschelte er gemächlich in den Stall, wo die Hühner schon lange auf der Stange saßen.
Wie alt Oscar war? Das wusste keiner mehr in der ganzen Nachbarschaft. Alt auf jeden Fall... Nach diversen Berechnungen muss er an die 20 Jahre alt gewesen sein, für eine Gans ist das fast ein biblisches Alter.
Vor zwei Wochen etwa veränderte sich alles. Oscar konnte nicht mehr schlucken, nicht mehr mit dem Schnabel das Brot greifen. Er wirkte manchmal orientierungslos und stand dann wieder stundenlang und stumpf an einer Stelle, als würde er über etwas brüten. Hatte er vielleicht einen Schlaganfall? Die Tierärztin hat diesen Verdacht bestätigt. Sie hat ihm eine letzte Spritze gegeben. Wir wollten ihn nicht verhungern sehen.
Wir haben ihn gestreichelt, bis das Leben sich aus ihm verabschiedet hatte. Und dann hat er uns ein letztes schönes Geschenk gemacht. Denn keine Stunde später war Oscar in den Wolken. Über eine halbe Stunde lang hing diese eine große Wolke über der Scheune. Eine Wolke in Form einer großen Gans. Oscar. Reglos. Klar und deutlich. Und dann, im Wind, verwehte Oscar ganz langsam, und er flog davon, immer mehr, bis er nicht mehr zu sehen war. Einen letzten Gruß hat Oscar doch noch abgeworfen. Denn als ich am nächsten Morgen die Tür öffnete, lag davor eine große graue Oscar-Feder.
Danke!