Sonnenaufgang auf dem Mont Ventoux, 2. Mai 2025

 

Der Mont Ventoux ist der Gigant der Provence. Mit seinen 1910 Metern überragt er kegelförmig die grüne Weite um sich herum, und von seinem Gipfel soll man bei bestem Wetter nicht nur die höchsten Gipfel der Alpen und Pyrenäen, sondern sogar das Mittelmeer sehen können. Natürlich nicht in einer frühen Morgenstunde, wenn der dunkle Schleier der Nacht sich langsam erhebt und die Sonne den Tag in neuem Licht erstrahlen lässt. Ein Sonnenaufgang auf dem Mont Ventoux ist ein Erlebnis, das man nicht vergisst.

Vent steht im Französischen für Wind. Der Berg der Winde, der „Windumbrauste“, lateinisch Mons Ventosus, wurde schon von den Kelten geliebt; sie verehrten auf dem Mont Ventoux einst eine Windgottheit. Moderne Sprachforscher führen den Namen bis ins Kelto-Ligurische zurück mit der Bedeutung: der Berg, der von Weitem sichtbar ist. Und von Weitem ist dieser Riese, der an einen erloschenen Vulkan erinnert, vielerorts in der Provence zu sehen. Immer wieder taucht er plötzlich am Horizont auf, und selbst im Sommer wirkt er dabei kühl mit seiner weißen Haube, die wie Schnee in der Sonne glänzt. Das sind die weißen Kalksteine auf dem kahlen Gipfel. Die Kalkschotterfelder sind Folgen der Rodungen aus jener Zeit, als die französischen Könige für den Bau ihrer Seeflotten die Bäume der grünen Berghänge schlagen ließen.

MontVentoux

Dort oben ist es immer viel kälter als im Tal, im Schnitt um die zehn Grad, was den Besuch gerade an sehr heißen Sommertagen reizvoll macht. Nur vom Hörensagen kannte ich bisher die Geschichten von Menschen, die keine Mühe damit hatten, sich zu nachtschlafender Zeit auf den Weg zu machen, um von der hohen Warte aus die Sonne zu sehen, die doch jeden Morgen wieder neu über den Horizont hinaufklettert. Wenn man jedoch eines Tages die Einladung zu diesem Abenteuer erhält, sollte man nicht nein sagen! D

ie Voraussetzungen an diesem 2. Mai sind ideal: Kein Regen, kein Mistral ist angesagt, der Wetterbericht verspricht einen wolkenlosen blauen Himmel. Trotzdem nehmen wir warme Pullover und Jacken mit. Es gibt drei Auffahrten zum Gipfel, von Malaucène, Bédoin und von Sault im Osten. Unser Navi wählt die Route über Malaucène. Im Dunkeln sind die Dörfer im Vorbeifahren nur schemenhaft zu sehen, die Straße ist gut ausgebaut mit einem breiten Radstreifen und führt schließlich in immer engeren Serpentinen hinauf. Wir sind ganz allein, selbst Radfahrer sind an diesem Morgen auf der Strecke nicht zu sehen. Was verwundert, denn schließlich ist der Mont Ventoux vor allem unter Radsportlern beliebt – und wegen seiner Steigung gefürchtet. 1951 wurde er erstmals bei der Tour de France erklommen und gilt seither als legendärster Gipfel des Rennens. Und für jeden Freizeitradler ist es wohl ein besonderes Glück, sich während eines Provence-Urlaubs hinauf auf den Gipfel zu quälen.

Hätten wir lieber die Strecke über Bédoin wählen sollen? Hätte, hätte…, jedenfalls brachte uns fünf Kilometer vor dem Ziel und 500 Höhenmeter unter dem Gipfel eine Straßensperre zum Halten. Kurz nach der Abzweigung zur Wintersportstation Mont Serein, direkt vor dem Restaurant Le Chalet Liotard ist die Weiterfahrt zum Gipfel für Autos gesperrt. Nur ein einziges Auto parkt am Straßenrand, und wir sehen noch zwei Menschen, die ihre Räder vom Gepäckträger heben und an der Sperrung vorbeiradeln.

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Da stehen wir also – morgens um 6 - so kurz vor dem Ziel. Es ist kalt, es ist windig, und wir kuscheln uns in unsere Jacken. Für Enttäuschung bleibt jedoch keine Zeit. Denn vor uns entwickelt sich ein kaum zu beschreibendes Panorama. Von unserem gipfelnahen Standort blicken wir weit über die Berge in Richtung Osten, bis zu den französischen Südalpen, wo die Dunkelheit immer mehr verblasst.

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Ein tiefroter Streifen am Horizont taucht die Berggipfel in ein mystisches Licht. Es ist so still. Nur ein Sausen liegt in der Luft – oder ist es das Rauschen des Windes, der durch die Baumkronen fegt? Eine seltsame Spannung nimmt uns den Atem. Oder ist es die innere Aufregung? Wie gebannt starren wir gen Osten. Rot, dann Gelb und Orange sind die Farben, die am Horizont leuchten in immer neuen Schattierungen.

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Der Sonnenaufgang ist für halb 7 angesagt. Eine halbe Stunde. Eine kurze Zeit, die wir in Stille verharren, und doch eine lange Zeit, in der man mit der Welt und sich alleine ist. Morning has broken like the first morning…Vögel zwitschern ungeachtet des himmlischen Spektakels. Tiere sind nicht zu sehen. Was vielleicht gut ist…, es sollen schon Wölfe auf dem Mont Ventoux gesichtet worden sein. In der andächtigen Morgenstunde, mit dem Kopf in den Wolken, meldet mir dann plötzlich mein Magen, dass ich Hunger bekomme. Ein ernüchternder Moment, ein bisschen bin ich von mir selbst enttäuscht.

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Die Farben, das Licht – jeder Moment scheint neu, noch außergewöhnlicher, noch strahlender als der davor. Und irgendwann, es muss wohl 6.30 Uhr sein, blinzelt ein goldenes Licht durch die Berggipfel, eine Glut, die immer größer und runder wird. So schnell wächst dieses Licht. Ein magischer Moment, der die Schönheit der Erde in einen goldenen Schleier taucht.

Wir können zusehen, wie der glühende Ball brennender und größer wird, doch kurz vor dem Moment, in dem man die Augen schließen muss, schiebt sich ein Dunst vor die Sonne, ganz sanft steigt er hinauf und die goldene Kugel erstrahlt dahinter in einem sanften Licht. Wie der Saturn sieht sie nun aus, die Sonne, und alle, die wir dort zum Himmel starren, möchten die Luft anhalten – und auch den Moment ins Ewige ausdehnen.

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Dann geht alles ganz schnell, die Farben verlieren sekündlich ihre Kraft und der Morgenhimmel sieht wieder ganz alltäglich aus. Die Radfahrer, ein Mann und eine Frau, kommen zu ihrem Auto zurückgeradelt und verladen ihre Räder. Der Steinschlag sei nicht so schlimm gewesen, man hätte mit dem Auto daran vorbeifahren können, sagen sie. Und auf dem Gipfel sei außer ihnen kein Mensch gewesen.

Die Einsamkeit sei ihnen gegönnt gewesen, denn wir haben sie 500 Meter tiefer genossen – allein mit der Sonne und der Welt.

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