Santon-Markt in Les Taillades, November 2024
Es weihnachtet schon. Bei einem endlos blauen Himmel und sonnigen Temperaturen von immer noch über 20 Grad ist das schwer zu glauben. Aber der Kalender sagt klipp und klar: In knapp sechs Wochen ist Heiligabend. Auch in der Provence… Und an diesem sonnigen Novembersonntag bekommen wir den ersten Vorgeschmack darauf in Les Taillades beim 7. Salon für Krippen und ihrem Interieur.
Der Ort der Ausstellung ist selbst einen Blick wert: die Mühle Saint-Pierre. Sie stammt aus dem 19. Jahrhundert, ihr riesiges Schaufelrad ist ebenso beeindruckend wie der Weg dorthin durch die wunderschöne Platanenallee entlang des Carpentras-Kanals. Früher mahlte die Mühle Färberkrapp, einer der ältesten roten Pflanzenfarbstoffe, bevor der Mühlenbetrieb auf die Mehlproduktion umgestellt wurde.
Zwei große Räume sind an diesem Wochenende das Ziel der provenzalischen Krippenliebhaber. Es ist allerdings gerade Mittagszeit, nur wenige Autos stehen auf dem Parkplatz. Denn in französischen Familien sitzt man jetzt zu Tisch. Und die Verkäufer hinter ihren Ständen löffeln aus mitgebrachten Schüsseln ihre Mahlzeiten, die sie in der Mikrowelle warmgemacht haben, und entschuldigen sich augenzwinkernd… es ist nun mal Mittagszeit.
So haben wir das Krippen-Wunderland fast für uns. 16 Santons-Künstler und Krippenbauer, traditionelle Kunsthandwerker und moderne Künstler, präsentieren ihre Arbeiten. In der Mitte steht die 15 Quadratmeter große, traditionelle Krippe von Marius Lancelin: eine Berglandschaft, ein Dorf mit Rathaus und Dorfplatz, Geschäften und Bauernhöfen, eine idealtypische Miniaturlandschaft der historischen Provence. In den Olivenhainen ist gerade Ernte, ein Schäfer treibt seine Ziegen zusammen und auf der Brücke vergnügen sich die Männer des Dorfes beim Tauziehen.
So eine klassische Krippe steht in kleinerem Maßstab seit Jahrhunderten in vielen Familien in Südfrankreich. Traditionelle Figuren wie Maria, Josef, die Hirten und die Waisen spielen darin eher eine Nebenrolle. Die „Santons“ – provenzalisch für „kleine Heilige“ – sind aus Ton gefertigt und tragen traditionelle Trachten. Das ganze Dorf wird durch diese kleinen Figuren lebendig: Es gibt den Bäcker, den Lehrer, den Müller, den Scherenschleifer, Marktfrauen, spielende Kinder, Hirten und Schafe, Lumpensammler, es gibt Hochzeiten und Dorffeste.
Santons sind weniger religiöser Kult, vielmehr provenzalische Tradition, die sich allerdings zwischen Wirtschaftskrise und der Konkurrenz durch im Ausland billig hergestellte Figuren bedroht sieht. Santons-Märkte gibt es im November und Dezember viele in der Region. Der älteste und größte findet seit 1803 in Marseille statt, der 222. eröffnet in diesem Jahr. In Les Taillades findet die Messe zum siebten Mal statt: Alle Versatzstücke, die man für seine Familienkrippe braucht, sind dort erhältlich. Unzählige kleine Elemente stehen zum Verkauf, Brücken, Mühlräder, Häuser, Körbe mit Brot, mit Fischen, Gemüse, wie für ein historisches Puppenhaus. Weihnachten kann kommen!
Der anschließende Spaziergang durch das kleine Dorf am Fuße des Luberon birgt noch andere Überraschungen. Les Taillades hat seinen Namen von den alten Steinbrüchen, in denen früher Stein abgebaut wurde. Im historischen Zentrums erhebt sich auf einem riesigen Felssporn ein Turm, bei dem es sich um den Bergfried einer alten Feudalburg gehandelt haben könnte.
In die Felswand zu seinem Fuße ist ein seltsames Flachrelief gehauen, an dem man nicht achtlos vorbeigehen sollte. „Mourvelous“ (Rotznase) nennt der Volksmund diesen Ort. Das Relief ist möglicherweise die Arbeit eines Steinbrucharbeiters aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Mit ein bisschen Fantasie soll man darin Saint-Veran sehen, zu erkennen an seiner Mitra, dem Kreuz auf seiner Brust und flankiert von zwei Wappenschildern zu seinen Füßen. Er reitet auf einem Drachen - dem legendären Drachen Couloubre, einer blutrünstigen Bestie in Form eines riesigen geflügelten Salamanders, der einst unter einem Felsen in der Sorgue lebte und die Provence terrorisierte. Im 6. Jahrhundert wurde er der Legende nach von dem heiligen Veranus, dem damaligen Bischof von Cavaillon, durch ein Kreuzzeichen vertrieben.
„Mourvelous“ heißt der Ort wohl auch, weil er in Les Taillades in früheren Jahrhunderten als Ort der Sühne diente: All jene, die etwas auf dem Kerbholz hatten, wurden dort festgebunden und konnten dann von den Dorfbewohnern bespuckt und mit Steinen beworfen werden, bis sie in Tränen ausbrachen. Eine Art mittelalterlicher Shitstorm sozusagen. Und ganz unversehens fühlen wir uns von der idyllischen Weihnachtswelt schon wieder in die raue Wirklichkeit zurückversetzt.