Tage des europäischen Kulturerbes, L'Isle sur la Sorgue, September 2024

 

Die Menschheitsgeschichte ruht zu unseren Füßen. Eine Kulturschicht über der anderen: Neue Siedlungen wurden einst auf alten Grundmauern, über Schutt und Müll gebaut. Die Reste, die sich erhalten haben, geben heute Rätsel auf und mit Glück auch Aufschluss über Vergangenes. Umso spannender also, wenn es hin und wieder kleine Gucklöcher gibt auf frühere Jahrhunderte, auf die Spuren all jener, die vor uns waren. So ein Guckloch hat sich gerade in L’Isle sur la Sorgue mitten in der historischen Altstadt aufgetan, gleich neben dem neuen Kino. Und zum Tag des europäischen Kulturerbes durften Interessierte ein paar Blicke darauf werfen.

Jedes Jahr am dritten Wochenende im September finden die Journées du Patrimoine, die Tage des Kulturerbes, in Frankreich statt. 1984 auf Initiative des damaligen Kulturministers Jack Lang für Paris ins Leben gerufen, wurde die Idee in ganz Europa begeistert aufgenommen: Überall werden für diese Veranstaltungen, in Deutschland als Tage des offenen Denkmals zelebriert, geschichts- und kulturträchtige Orte für die Öffentlichkeit geöffnet. In L’Isle sur la Sorgue stand in diesem Jahr vor allem das alte Herz der mittelalterlichen Stadt rund um den Tour d’Argent auf dem Programm.

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Der sogenannte Silberturm ist das älteste Bauwerk der Stadt, er wurde von den lokalen Patrizierfamilien Ende des 12. Jahrhunderts als Zeichen ihrer Herrschaft erbaut und mit einer wunderschönen romanischen Kuppel bedeckt. Schon seit ein paar Jahren wird an diesem Turm gleich neben der Stiftskirche Notre-Dames-des-Anges gewerkelt. Hinter einem Bauzaun versteckt, konnten die Bewohner lange Zeit nur ahnen, was sich dahinter tut.

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Die Sanierung des Turmes war nur ein Detail, denn die umliegenden alten Bauwerke wurden in das Projekt zur Belebung des historischen Zentrums mit einbezogen. So entstand gleich nebenan das neue Kino, auf das L’Isle sur la Sorgue schon so lange gewartet hatte: In einem Neubau ist es über einen historischen Hinterhof erreichbar, neben den neu renovierten Fassaden der alten Häuser. Ein Projekt, das Modernität und Geschichte miteinander verbindet.

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Der frisch sanierte Turm selbst soll im März 2025 eröffnet werden. Dann können Besucher nicht nur zur achteckigen Kuppel hinaufsteigen, sondern bis hinauf aufs Dach, um von dort einen Blick über die Stadt zu genießen. Den Plan, oben im Turm eine Camera obscura einzurichten, hat die Verwaltung inzwischen fallen gelassen – zu teuer und technisch zu kompliziert, erzählt François Guyonnet, oberster Denkmalschützer in L’Isle sur la Sorgue, bei seiner Führung.

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Aber auch so wird der Silberturm ein Publikumsmanget werden. Gleich nebenan, am anderen Ufer der Sorgue de l’Arquet, entsteht gerade mit einem kleinen Park ein weiterer Anlaufpunkt im Zentrum. Dafür wird der Place de Rose Goudard ab Oktober umgebaut, Bäume und Sträucher werden gepflanzt. Bis dahin gehört der Platz den Archäologen – gerade mal zwei Monate haben sie Zeit, dieses Guckloch in die Vergangenheit wissenschaftlich zu untersuchen, erzählt die Archäologin Émilie Porcher bei ihrer Führung über die Ausgrabungsfläche. Und dabei steht sie im Grabungsloch vor einer Mauer aus dem Jahr 1886, die früher zu einer Mädchenschule gehörte. Fotos von der Schule, die 1962 abgerissen wurde, gibt es keine, nur ein paar alte Klassenfotos geben Hinweise auf die Architektur des Hauses, so Porcher: „Wenn damals fotografiert wurde, dann waren das Menschen oder besondere Gebäude wie Kirchen, aber keine Schulen.“

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Das Viertel, das direkt an den Silberturm grenzt, war bis in die 1960er Jahre dicht bewohnt. Nun graben sich die Archäologen in aller Schnelle durch die Erdschichten. Wenn Émilie Porcher morgens auf die Ausgrabungsstätte kommt, steht das Wasser zur Hälfte in der Grube und muss erst einmal abgepumpt werden: Der Grundwasserspiegel steht stets hoch im historischen Zentrum, das von der Sorgue und ihren Armen durchströmt und umschlossen wird. Das erschwert die Arbeit, hat aber auch Vorteile: In dem Wasser bleiben Vegetationen wie Holzreste gut erhalten. So fanden die Ausgräber Reste einer Pinie aus dem 13. Jahrhundert. Die Handvoll Torf, die Émilie Porcher den Besuchern zeigt, stammt aus einer Zeit vor den ersten Siedlern. Die ersten Kulturspuren finden sich im 10. Jahrhundert: 1,80 Meter tief sind deshalb die Kulturschichten unter L’Isle sur la Sorgue – wenig im Vergleich zu anderen großen Kulturorten, die auf bis zu zehn Meter historischer Schichten angewachsen sind, so Porcher. Ein Holzlöffel aus dem 13. Jahrhundert gehört bisher zu den besonderen Funden der Ausgräber.

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Hinter den Mauerresten der Mädchenschule sind sie auf Grundmauern aus dem 14. Jahrhundert gestoßen, eine Herdstelle weist den zentralen Raum des Hauses aus. Viele Keramik- und einige Glasscherben sind das Glück der Altertumsforscher: „Mit ihnen können wir sicher die verschiedenen Zeiten datieren.“ Knochenfunde zeugen von den Ernährungsgewohnheiten der früheren Bewohner. Erstaunlicherweise finden sich kaum Schweineknochen. „Die Leute aßen vor allem Ziegenfleisch. Auch Schafe, aber weniger Fische als gedacht“, so Porcher. Für Rätselraten unter den Besuchern dieser Führung sorgt dafür der Fund eines großen Depots an Hörnern junger Kühe aus dem 18. Jahrhundert. Was könnte es damit auf sich haben? Tatsächlich hatte es gleich um die Ecke in damaliger Zeit einen Metzger gegeben, so Porcher. Sie mutmaßt, dass es damals dort einen Bewohner gegeben haben muss, der Kuhhorn schnitzte - vielleicht fertigte er Kämme oder Dekorationsobjekte –, und dafür hatte er sich beim Metzger mit Material versorgt und im Garten verwahrt.

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Vier Wochen bleiben den Archäologen noch für die weitere Arbeit. Dann wird die Ausgrabungsstätte wieder zugeschüttet, alle Fundstücke werden nach ihrer Auswertung der Kommune übergeben und eingelagert – für die wissenschaftlichen Untersuchungen künftiger Generationen. Die kommen mit neuen Methoden und Erkenntnissen möglicherweise zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Und all jenen, die künftig in dem kleinen Park spazieren gehen werden, sind solche Gedanken zur Historie des Ortes vielleicht völlig schnuppe.