Bonnieux, Anfang August 2024
Ihren Namen verbinden viele Menschen mit Spinnen. Mit großen Spinnen! Maman heißt die größte Plastik aus der Spinnenserie – Mama. Über neun Meter groß, mit spiddeligen Beinen – es ist eine Hommage an die eigene Mutter. Was, wenn man sich mit Louise Bourgeois (1911-2010) beschäftigt, gar nicht mehr so seltsam klingt: Die vielseitige Künstlerin ist bekannt dafür, dass sie ihre intimsten Neurosen, ihre Familientraumata, Verletzungen, Wunden und Ängste in universelle Sprache, in Kunst übersetzt hat. Werke von Louise Bourgeois finden sich heute in allen großen Museen der Welt. Und ein kleiner, wohl gehüteter Schatz ist in Bonnieux im Luberon verborgen – er öffnet nur für wenige Sommerwochen im Jahr seine Türen für Besucher.
Bonnieux ist eines der schönsten Dörfer der Provence, malerisch schmiegt es sich auf den Hügeln des Luberon. Am Dorfrand, unterhalb der verwinkelten engen Gassen und gar nicht einfach zu finden, stand einst das Rekollektenkloster Le Couvent d’Ô. Die Kapelle wurde 1605 erbaut, im Zuge der Französischen Revolution 1790 säkularisiert und diente zwei Jahrhunderte als Scheune, bis ein Pariser Bankier und Kunstliebhaber das Gebäude kaufte und renovierte. Jean-Claude Meyer kannte Louise Bourgeois, und als er ihr vorschlug, den Innenraum der Kapelle zu gestalten, sagte sie zu. Die Arbeit gehört zu ihren letzten Werken, 2010 starb die Bildhauerin, die in Paris geboren wurde, aber den größten Teil ihres Lebens in New York lebte. 2004 wurde die Kapelle eröffnet.
Sie war nicht gläubig. Und doch schuf sie in Bonnieux einen spirituellen Ort ganz eigener Prägung. Eine große Ruhe umgibt diesen Ort. Es ist ein heißer Sommertag, nur die Zikaden lärmen in der späten Mittagssonne. Der schlichte Bau ist geschmückt von zwei Zedern am Eingang, die hölzerne Eingangstür steht offen. So blickt man von der Eingangsstufe über den kleinen Kirchenraum mit weiß getünchten Wänden und einfachen Strohstühlen auf den Steinfliesen. Links vom Eingang sitzt ein junges Mädchen und liest, sie begrüßt die Besucher und kassiert das kleine Eintrittsgeld. Neben ihr lehnt eine Gitarre an der Wand, auf dem Tisch auf der anderen Seite liegen Kunstmagazine, aufgeschlagen, mit Fotos über die Künstlerin und Berichten über die Église Louise Bourgeois. „Bitte berühren“, ist ein Artikel überschrieben, und das ist hier das Motto: Die Kunst von Louise Bourgeois ist zum Anfassen gemacht und soll berühren.
Gleich links hinter dem Portal befindet sich das wohl seltsamste Kunstwerk des Raumes: Ein Weihwasserbecken aus rohem, fleischfarbenen Carrara-Marmor. Zwei Blöcke, übereinandergelegt, die von außen grob behauen sind. Der Innenraum dagegen ist glatt poliert und mit großen Brüsten ausgekleidet, die fast an Tiereuter erinnern. Stehen diese Brüste für die Mutter, die nährt, die Leben schenkt? Es fühlt sich jedenfalls seltsam an, die Hand hineinzulegen.
Auch eine Spinne findet sich. Keine große Maman, sondern eine kleine Bronzespinne sitzt an der Wand an einer Abseite. Die Spinne, sie steht in dem Werk von Louise Bourgeois immer für die Mutter. Ihre eigene Mutter Joséphine war Restauratorin von Tapisserien und alten Stoffe, – wie die Spinne, die die Fäden in ihrem Netz immer wieder flickt, erneuerte sie Stoffgewebe und Bildteppiche. Von der Mutter fühlte sie sich beschützt und umwoben.
Der Vater dagegen war für sie der Zerstörer der Familie, er betrog seine Ehefrau im eigenen Haus zehn Jahre lang mit dem englischen Kindermädchen. Von klein auf wurde Louise von ihm getriezt, er machte sich am Esstisch vor allen über sie lustig. Ein prägendes Erlebnis, von dem sie in einem Interview später berichtete:
„Mein Vater redete pausenlos. Ich hatte nie Gelegenheit, etwas zu sagen. Da habe ich angefangen, aus Brot kleine Sachen zu formen. Wenn jemand immer redet und es sehr weh tut, was die Person sagt, dann kann man sich so ablenken. Man konzentriert sich darauf, etwas mit seinen Fingern zu machen. Diese Figuren waren meine ersten Skulpturen, und sie repräsentieren eine Flucht vor etwas, was ich nicht hören wollte.“ (3sat – Kulturzeit, zitiert nach Wikipedia, Louise Bourgeois)
Ihr Hass auf den Vater wird eine weitere wichtige Inspirationsquelle, in vielen Werken versucht sie, seine Figur kunstvoll zu zerstören. „Zellen“ sind ebenfalls wiederkehrende Elemente ihrer Arbeit – „Cells“. Sie fertigt kleine Räume, häufig Käfige aus Drahtgitter als Orte für ihre Installationen. In Bonnieux ist es ein vergitterter, käfigartiger Beichtstuhl. Eine Gefängniszelle? Auf der Priesterseite hängt ein kraftloser Christus aus weißem Stoff an der Wand, auf der Sünderseite fällt vor allem die Skulptur der betenden Hände ins Auge – zwei große Marmorhände, die ein kleineres Paar schützend umfängt.
Die Jungfrau mit dem Kind steht auf einem Sockel an der Kirchenwand unter einer Glasglocke, sie ist aus rosafarbenem Strickstoff genäht, Das Gesicht der Mutter drückt Leid und Schmerz aus, sie gibt ihrem Kind die Brust.
Es gibt keinen Altar. Im Chorraum unter dem Kreuzgratgewölbe steht nur ein großes Bronzekreuz. Der Querbalken ist ein sehr menschlicher, alter Arm mit zwei Händen, die eine verkrampft und geschlossen, die andere offen und entspannt. Geben und nehmen, ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv bei Louise Bourgeois. Auch ein christliches. Ist es ihre Hand, ihr Arm?
Auf der anderen Kirchenseite erinnern eine Ausbuchtung in der Mauer und Eisenringe in der Wand an die Zeit, als die Kapelle noch als Stall für Tiere gedient hat. Dann ist man auch schon rum, eigentlich hat man schnell alles gesehen, was es zu sehen gibt. Und doch hat dieser Ort einen seltsamen Zauber und man mag sich gar nicht davon trennen.
Viele Besucher finden nicht den Weg hierher, in diese kleine Kunstkirche. An manchen Tagen komme kaum einer, an anderen vielleicht 10, 15 Leute, sagt das junge Mädchen am Eingang. Bis zum 15. August wird sie dort noch sitzen, dann wird die Kapelle wieder geschlossen und sie kehrt zu ihrem Studium nach Paris zurück. Aber ich September öffnet die Église Louise Bourgeois für weitere elf Tage – und dann erst wieder im nächsten Jahr.
L’Église Louise Bourgeois, Le Couvent d’Ô, 7 chemin Saint-Gervais, Bonnieux. Öffnungszeiten (2024): 14. Juli bis 15. August und 1.-11. September täglich von 10-13 Uhr und von 15-18 Uhr. Im Internet: https://egliselouisebourgeois.com/