In den Calanche di Piana, Korsika, im Juni 2024

 

Manchmal fehlen die Worte. Wenn das Meer zu blau ist, der Himmel so endlos, der Moment so tief. Die Möwen über dem Boot kreischen und man versteht plötzlich, was es heißt, die Seele schlägt Purzelbäume. Die Felsen, an denen wir mit dem Boot vorbeitreiben, winken uns ein letztes Mal wie sagenhafte verschrobene Wesen aus dem Wasser zu. Und dann ist er schon vorbei, dieser Moment. „Schreibt doch bitte eine gute Bewertung“, sagt Jéjé, der Skipper, und steuert wieder zurück in den Hafen. Was sollte man sonst schreiben über diesen Bootsausflug zu den Calanche di Piana auf Korsika?

Korsika ist französisch und doch so gar nicht. Dafür ist das Wort calanche schon mal ein Beispiel: Die Franzosen sagen calanques, auf Korsisch heißt es calanche, die Aussprache ist jedoch die gleiche. Die Bedeutung sowieso: Calanques bezeichnen schwer zugängliche, steile Felsbuchten am Meer. Wer jedoch die fjordartigen Buchten am Mittelmeer zwischen Marseille und Cassis kennt, wird trotzdem über die Küstenlandschaft am Golf von Porto an der Nordwestküste der Vulkaninsel Korsika staunen.

Die Calanche di Piana sprüht vor Farbe. Wind, Wetter und das Salzwasser haben den roter Porphyr in Jahrtausenden geformt. Die Granitsteine schimmern rosafarben im Sonnenlicht, in der Abendsonne glühen sie von innen heraus blutrot, ein großartiges Schauspiel der Natur. Wohl auch deshalb gehören die Calanche mit dem benachbarten Golf von Girolata und dem Naturschutzgebiet Scandola zum Unesco-Weltkulturerbe.

Schon die Anfahrt ist ein Abenteuer. Die Calanche, zwischen Calvi und Ajaccio gelegen, erreicht man über die kleine, kurvige D81, gleich hinter dem namensgebenden Örtchen Piana auf der Hochebene der Berglandschaft. Das Dorf hat gerade mal 600 Einwohner, schmucke Häuschen und glänzt vor allem durch den grandiosen Blick über die wild zerklüftete Küste hinab auf den Golf von Porto.

Calanchevonoben

Von Piana aus sind es noch 20 Autominuten nach Porto, von wo aus die Bootstouren starten. Die Fahrt ist eine Herausforderung und zugleich ein Erlebnis: Zwischen den rauen Granitblöcken hindurch windet sich das Sträßchen, und plötzlich befinden wir uns mitten in einer Ziegenherde, die friedlich an den steilen Abhängen grast.

ZiegenCalanche

Autos parken am schmalen Wegrand, die Menschen stehen daneben, hinter jeder Kurve gibt es großartigere Ausblicke aufs Meer. Der Weg an klaffenden Abgründen entlang ist nicht ohne Risiko: Im November 2021 brach ein 150 Tonnen schwerer Felsbrocken von der Klippe ab und riss die Straße auf.

CalancheAnfahrt

Es gibt Wanderwege durch die Calanche, über die Klippen hinunter zum Meer, doch die meisten Besucher machen es wohl wie wir: Von Porto aus starten sie zu kleinen oder größeren Rundreisen. Bootsanbieter gibt es viele, sie locken mit schmalen Speedbooten, die Platz für je zwölf Passagiere haben und es erlauben, die Felsengrotten von innen zu besichtigen. Und auf so einem Boot sitzen wir an diesem sonnigen Junitag dann auch.

CalancheBoot

Jérôme heißt unser Kapitän, er nennt sich Jéjé. Er ist ehemaliger Marineoffizier und hat schon viel von der Welt gesehen, erzählt er. Auf Korsika ist er erst seit April, vorher war er in den französischen Überseegebieten tätig. Jéjé sorgt mit launigen Worten für gute Laune an Bord. Er verspricht atemberaubende Ausblicke und spektakuläre Schönheit in einer großartigen Landschaft. Und doch spricht aus seiner Begeisterung unverkennbar die Liebe zum Meer, zur Natur.

CalancheJeJe

Dann geht es los – im Highspeed übers Wasser. Erstes Ziel: die Calanche di Piana. Das rote Magmagestein ragt in bizarren Formationen aus dem türkisfarbenen Wasser. Der Skipper drosselt den Motor, im ruhigen Tempo treiben wir die Küste entlang. Die Gischt des Meeres, das Salzwasser des Regens, Sonne und Wind setzen seit Jahrtausenden dem Granitgestein zu und höhlen es aus, viele Hohlräume, Tafoni genannt, sind so entstanden, erzählt Jéjé.

UmrisseCalanche

Der Stein ist mit Adern aus weißem Quarz durchzogen. Die Erosion hat in dieser zerfurchten Bergwelt fantastische Formen geschaffen mit Türmchen, Zinnen, Säulen, Ähnlichkeiten mit Lebewesen nicht ausgeschlossen. Wir kommen an einer kleinen Felseninsel vorbei, die Hundskopf heißt. Ein Herz gehört zu den beliebtesten Fotomotiven.

CalancheHundskopf

Vorsichtig manövriert Jéjé das Boot durch die engen, scharfkantigen Höhleneingänge. Dann verstummt er und dreht seine Musikbox auf. Die mehrstimmigen a capella-Gesänge traditioneller korsischer Männerchöre schallen fast unheimlich durch die steinige, feuchte Höhlenlandschaft wie gregorianische Choräle in einer Klosterkirche. Das Wasser ist kristallklar, Fische umschwirren unser Boot. Jéjé zeigt nach oben. Wenn man genau hinsieht, ist dort auf den Klippen ein Nest. Ein Fischadler-Nest. 27 Fischadlerpaare sind mittlerweile wieder in dem Naturpark heimisch.

FischeCalanche

Weiter geht es, die Küste entlang, zur Halbinsel Capo Rosso, eine der höchsten Meeresklippen Europas. Auf den steilen Klippen des über 300 Meter hohen roten Gebirgszugs thront der 1602 erbaute Genueserturm Tour de Turghiu. Er ist Zeugnis der unruhigen Zeiten der Insel, insbesondere ab dem 16. Jahrhundert. Als Konstantinopel 1453 durch die Osmanen eingenommen wurde, begannen Piraten über drei Jahrhunderte lang die Mittelmeerinseln unsicher zu machen – die Barbaresken-Kosaren betrieben Sklavenhandel und Lösegelderpressung und verschleppten bei ihren Raubzügen auch korsische Männer, Frauen und Kinder, ja ganze Dörfer. Als Reaktion darauf ließ die Republik Genua, die damals über Korsika herrschte, zum Schutz der Küsten nach und nach Wachtürme an strategischen Punkten errichten. Näherten sich verdächtige Schiffe, konnten die Menschen durch vereinbarte Rauchsignale schnell gewarnt werden. Von einst 120 Türmen stehen noch 68 auf Korsika und prägen bis heute das Bild dieser Vulkaninsel.

Dann ist unsere Rundreise beinahe zu Ende. Jéjé dreht noch einmal die Musikbox auf volle Lautstärke auf und startet den Motor durch, im Highspeed fliegen wir über die Wellen und dazu dröhnt „The Sound of Silence“ in der Heavy-Metal-Version der Band Disturbed in den Ohren – eine seltsame, Adrenalin ausschüttende Dualität in dieser ansonsten so stillen Landschaft, die einen bis ins Innere vibrieren lässt. Ein unvergesslicher Moment.

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