Annäherungen an ein Naturphänomen, September 2018 

 

Ganz plötzlich braust er auf und nimmt dich in den Arm. Mal streichelt er dich, viel öfters schüttelt er dich heftig, der Ungestüme, und bläst dir kalt ins Gesicht. Er kann jammern und heulen, stöhnen, pfeifen und seufzen. Dann holt er noch mal tief Luft, um abrupt wieder loszulassen. Dem Mistral kann man in der Provence nicht entgehen. Ihn zu treffen, ist immer wieder ein durchrüttelndes Erlebnis.

Als kalter Fallwind fegt er vom nördlichen Gipfeln des Zentralmassivs die Rhone hinunter bis zum Mittelmeer. Am frühen Morgen verjagt das windische Heulen den letzten Schlaf.  Der Wind klappert unter den Dachschindeln, eine Tischdecke fliegt durch die Luft. Wo sind bloß alle Vögel, klammern sie sich an den Ästen der Bäume fest? Die Provence macht dicht, die Gassen sind menschenleer. Ein Sonnenschirm wird hochgehoben, unsichtbare Hände zerren mit Gewalt an den Sträuchern und Bäumen. Ein Ferienhausbesitzer erzählt, dass er allein in diesem Jahr vier Mal seinen schweren Strandkorb nach dem Mistral wieder aus dem Pool hieven musste.

Doch während Stürme für gewöhnlich mit dicken Wolken im Heereszug kommen, bläst der Mistral sich den Weg frei: Wolkenlos präsentiert sich der dunkelblaue Himmel der Provence, der Blick ist klar und weit, die Luft sauber und frisch. Mit 50, 100, in Höchstwerten mit 135 Kilometern die Stunde jagt er für gewöhnlich übers Land, oft mehrmals im Monat. 1967 wurden auf dem Gipfel des Mont Ventoux Sturmböen mit einer Geschwindigkeit von 320 Kilometer pro Stunde gemessen.

 Mistral

„Mistral-Wind, du Wolken-Jäger, Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, Brausender, wie lieb ich dich!“, schrieb Friedrich Nietzsche in einer Liebeserklärung „An den Mistral“. Die meisten fürchten ihn oder haben gelernt, ihn zu erdulden: „vent du fada“ heißt der Mistral im Provenzalischen - „le vent qui rend fou“, der Wind, der verrückt macht. Durch seinen trockenen Luftzug macht er Mensch und Tier reizbarer, wetterfühlige Zeitgenossen leiden verstärkt an Kopfschmerzen. Viele Menschen fühlen sich müde und schlapp. Für manche  kündigt er sich durch eine plötzlichen Niedergeschlagenheit an. Und alle haben plötzlich ganz viel Durst. „C’est le mistral“ – für alles Mögliche bietet dieser Wind eine Erklärung.

Er kommt stets als Überraschungsgast, und wie lange er bleibt, ist ungewiss. Man muss ihn aushalten. „Der Mistral bläst entweder drei, sechs oder neun Tage“, ist eine unbewiesene Bauernweisheit. Die Provenzalen beobachten ihren Wind seit jeher: „mistrau“ – Meister oder Herrscher nennen sie ihn in ihrer Mundart ehrfurchtsvoll. Sie kennen den Wind so gut, dass sie für ihn 32 Namen haben. Es gibt den schnarchenden Wind (Lou rouncaire) und den pustenden (Lou boufaire ). Der mistralet“ ist noch angenehm, dermistralado“ kommt in heftigen Böen, dermistralas“ schüttelt schon heftig. Und derrauba-capèu“ ist sozusagen ein Huthochheber. Sagt der Mistral „bonjour“ am frühen Morgen, muss man sich länger auf ihn einstellen. Wenn er dagegen mit einem „bonsoir“ am Abend daher kommt, bleibt er nur bis zum nächsten Abend, lautet eine andere Weisheit.

Noch einen anderen Namen haben die Provenzalen für den trockenen Nordwind - „lou mangio-fango“, zu deutsch etwa Schlammfresser. Denn er pustet die Pfützen trocken und dörrt die Erde aus. In der Sommerhitze kann er eine kleine Glut in Sekunden in eine Feuerlawine verwandelt. Dafür bringt er in den heißen Sommermonaten angenehme Kühle: bis zu 10 Grad fallen die Temperaturen, wenn er bläst.

Der Mistral gehört zur Provence wie der Lavendel, Wein und Oliven. Er hat dem Land sein Profil aufgedrückt. Die Natur verneigt sich vor ihm: Bäume wachsen gebogen in Windrichtung Süden. Provenzalische Häuser werden traditionell nach Süden offen, nach Norden geschlossen gebaut, dem Mistral zeigen sie nur ihre schmale Stirn, damit er sich nicht an ihnen stößt. Damit die Böen die Kirchtürme nicht abdeckt, baumeln in der Provence viele Glocken in eisernen Käfigen unter freiem Himmel.

Irgendwann hat man sich an das Heulen und Stöhnen gewöhnt. Man hört es nicht mehr. Und dann - hört man gar nichts mehr. Von einer Sekunde auf die andere hat sich der Wind gelegt. Es ist so still. So still, als würde die ganze Welt Atem holen. Wie lange kann man diesem Frieden trauen?

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