L'Isle sur la Sorgue, Mai 2024

 

Habe ich schon einmal von Oscar berichtet? Ich glaube nicht. Oscar ist unser Neuzugang auf der Hühnerwiese. Allerdings ist er kein Hahn, sondern eine Gans. Und somit haben wir seit einem Dreivierteljahr neben unserem Hund einen Ganter, der uns jeden fremden Besuch meldet.

Oscar ist eigentlich ein alter Bekannter. Er war nämlich der Ganter eines Nachbarn, und seine Wiese, die er mit den Nachbarhühnern teilte, grenzte an den Zaun unserer Hühner. Durch den Zaun hindurch hatten sich die Zweibeiner also alle schon „beschnüffelt“ und lebten in harmonischem Nebeneinander. Dann entschied sich der Nachbar, seinen sehr alten Hühnern – tja, wie sagt man es? – den Hals umzudrehen… Und Oscar stand plötzlich zur Disposition. So landete er bei uns, auf der anderen Zaunseite. Nicht unbedingt zur Freude unserer Hühner, die sich an den Seitenwechsel des Ganters erst mal gewöhnen mussten. Aber inzwischen ist die Rangordnung geklärt: Oscar ist der Hahn der Truppe.

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Ganz jung ist Oscar nicht mehr. Also: eigentlich alt. Über sein Alter kann man nur spekulieren. Der Nachbar hat ihn von seinem Sohn übernommen, da war Oscar schon nicht mehr ganz jung, und das ist wohl über zehn Jahre her. Vielleicht noch länger, so ganz weiß das keiner mehr in der Nachbarschaft. Oscar, davon kann man ausgehen, ist ein Senior. Und ein sehr ruhiges, friedliches Tier, das Besucher nicht zischend hinter dem Zaun empfängt, sondern ganz neugierig und zugewandt jedem begegnet und sich mittlerweile sogar streicheln lässt. Als erstes haben wir ihm ein kleines Wasserbecken gekauft, denn Gänse sind ja Wassertiere, und Wasser hat er wohl in den vergangenen Jahren schmerzlich vermisst. Seither verbringt er viel Zeit eines jeden Tages im Wasser und putzt sich. Wenn er nicht gemütlichen Schrittes mit den Hühnern rund um die Wiese schreitet. Oscar scheint ganz gut bei uns angekommen zu sein.

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Und nicht nur Oscar. Denn mit der Zeit registrierten wir, dass alle Spatzen und Tauben der Region ebenso zu uns zum Essen kamen. Denn da eine Gans ja einen größeren Schnabel hat als unsere Hühner, hatten wir den Körnerspender der Hühner gegen einen großen Futtertrog ausgetauscht – und daran fanden nun plötzlich alle Vögel von nah und fern Platz. Eine riesige Vogeltafel sozusagen. Unser Körnerfutterverbrauch verdoppelte sich. „Das ist doch normal, wenn man die Hühner auf einer offenen Wiese hat“, sagte die Verkäuferin im Tierfuttergeschäft.

Nicht, dass wir es den Vögeln nicht zugestehen würden, aber so richtig waren wir damit nicht glücklich. Und fanden eine individuelle Lösung: Wir bauten ein Kunststoff-Futterrohr mit drei gebogenen Öffnungen, inspiriert von den Abflussrohren unter dem Spülbecken. In dem ganzen Rohrsystem passt nun das Körnerreservoir einer Woche, und über die Öffnungen können Hühner und Gans ihr Futter aus der Rohrmitte heraus picken. Das Futter bleibt bei Regen trocken. Die Öffnungen sind auf zwei Ebenen verteilt: eine höhere Windung für Oscar, zwei tiefere für die Hühner. Es dauerte einen Nachmittag, und das Federvieh hatte die neue Futterquelle für sich entschlüsselt und steckte die Köpfe in die Rohre. Das sieht lustig aus. Und manchmal findet inzwischen wieder ein schlauer Spatz den Eingang und wagt sich in stillen Momenten in das Rohr hinein. Es sei ihm gegönnt.

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Wir sind jedenfalls mit dieser Lösung sehr zufrieden. Und auf der Hühnerwiese herrscht ebenfalls Frieden. In den vergangenen Winter- und Frühlingswochen hat es so viel geregnet wie lange nicht in der Provence, und so ist das Gras in diesem Mai noch nicht verdorrt und trocken, sondern steht hoch wie nie. So hoch, dass die Hühner ganz zwischen den langen Halmen verschwinden, nur ihre roten Kämme sind im Grün erkennbar. Aber Oscar ragt mit seinem langen Hals zwischen den Grasähren hervor und scheint alles im Blick zu haben. Und er sieht dabei eigentlich ganz glücklich aus.