Villeneuve-lès-Avignon, April 2024
In einer Welt, die immer verrückter zu werden scheint, ist der Gedanke vielleicht gar nicht so abwegig: Allem den Rücken zu kehren, um nur mit sich selbst und mit Gott zu leben. Schon zu allen Zeiten gab es Eremiten. Die abendländische Kultur ist geprägt von Menschen, die sich bewusst für das Leben in der Einsamkeit, für Stille und Besitzlosigkeit entschieden, für einen Weg nach innen. Ein Beispiel dafür ist der Kartäuserorden, 1084 von hl. Bruno gegründet. Wie das Leben in einer Kartause ausgesehen hat, kann man auf schönste Weise in Villeneuve-lès-Avignon studieren: in der Chartreuse du Val de Bénédiction.
Villeneuve-lès-Avignon? Uns geht es wie vielen anderen: Wir sind von den Hotspots angezogen, von den bekannten Sehenswürdigkeiten, und übersehen dabei schnell die weniger bekannten, aber nicht minder interessanten Orte. Villeneuve-lès-Avignon ist so ein Ort, der sich schon allein für den Besuch der Chartreuse lohnt. An der Rhône gegenüber von Avignon gelegen, hat das mittelalterliche Städtchen einen ganz eigenen Charme. In der Zeit von 1309 bis 1377, als sieben Päpste von Avignon aus die christliche Welt regierten, bauten sich wohlhabende Kardinäle und kirchliche Würdenträger ihre Residenzen stadtnah, aber doch mit wohltuendem Abstand zur lärmenden Papststadt auf der anderen Flussseite.
Donnerstags ist in Villeneuve-les-Avignon Markttag. Gemüse, Obst, Fleisch, Gewürze, Honig, Paëlla, Hähnchen - die Stände auf dem Place Charles David, auf dem sonst die Autos parken, bieten alles, was ein Marktbesucher wünscht. Von dort aus sind es nur wenige Schritte zum Fort André, eine gewaltige, eindrucksvolle Festung aus dem Jahr 1362 mit einer Torburg aus zwei Türmen, die oben auf dem Hügel über der Stadt thront.
Die Gärten im Innenhof lohnen einen Besuch, verspricht unser Reiseführer, aber: Hunde verboten. So genießen wir auf einer Bank vor der wuchtigen Steinmauer den Blick auf Avignon und die weite Landschaft bis zum schneebedeckten Mont Ventoux.
An schönen Steinhäusern und grünen Gärten führt der Weg in die Stadtmitte, vorbei an Bistros und Restaurant, wo die Menschen ihren Kaffee vor der Tür in der Frühlingssonne genießen. In der Mittagszeit haben die Geschäfte in der Rue de la République geschossen. Ganz unscheinbar ist der Eingang zur Chartreuse hinter einem Torbogen. Welch ein gewaltiges Klostergelände sich dort hinter versteckt, kann man nicht erahnen.
Die Chartreuse, erbaut ab 1352, war ein Geschenk des Papstes Innozenz VI., der nach seiner Papstwahl dem Kartäuserorden seinen Palast und den Grund und Boden, den er als Kardinal in Villeneuve lès Avignon besessen hatte, schenkte. Mit ihrer Kirche, drei Kreuzgängen, 40 Zellen, Gärten und einer Kapelle mit Fresken des italienischen Malers Matteo Giovannetti gilt sie als das größte Kartäuserkloster Frankreichs. In der Französischen Revolution wurde das Kloster aufgeteilt, die Einrichtung, die Kunstwerke und die Bibliothek wurden verkauft. Erst im 20. Jahrhundert wurde mit dem Wiederaufbau und Sanierung begonnen. Heute ist dort unter anderem ein internationales Kulturzentrum untergebracht, das Schauspielern, Regisseuren und Dramaturgen für begrenzte Zeit in den ehemaligen Mönchszellen Arbeits- und Wohnraum bietet.
Die mit einem Kreuzrippengewölbe bedeckte Kirche hat ihren Altarraum eingebüßt, die Apsis stürzte im 19. Jahrhundert ein und wurde nicht wiederaufgebaut. Die Öffnung gibt einen Blick auf das Fort St. André frei – welch eine Idylle. Die Schlichtheit und Strenge der Mauern, ein Prinzip des Ordens, wirkt entspannend. Das Sonnenlicht fällt durch die Rundbögen in den Kreuzgang, es ist wunderbar ruhig und still. Schlichte Holztüren führen zu den früheren Mönchszellen, die wie kleine Häuser für die Einsiedler dienten. Die Zelle eines Kartäuserpaters auf zwei Stockwerken bestand aus drei Räumen: dem Ave Maria als Betraum, der Werkstatt für die Handarbeit und der Schlafkammer. Über eine Art Durchreiche rechts von der Tür erhielt der Pater seine Speise sowie die Dokumente, die er für seine Arbeit brauchte.
Während die Patres ein Leben im Gebet und in der Stille führten und ihre Zelle nur zu Anlässen wie den gemeinsamen Gottesdiensten verlassen durften, war das Gebetsleben der Brüder einfacher. Dafür kümmerten sie sich um die wirtschaftlichen Abläufe im Kloster, um die Küche, den Gemüsegarten, die Schneiderei, die Wäscherei.
Nächtliche Gebete, Fasten, Einsamkeit, Arbeit, geistliche Lektüre – für diese Lebenseinstellung brauchte es Disziplin und Überzeugung. Nicht jeder konnte sie ständig aufbringen: Davon zeugen die sieben kleinen Isolierzellen, zwölf Quadratmeter groß, die für Gefangene reserviert waren. Eine seltsame Entdeckung: ein Gefängnis im Kloster? Was konnten Mönche verbrechen? Eingekerkert wurden Brüder- oder Priestermönche, die ohne Genehmigung das Kloster verlassen oder sich schlecht benommen hatten, zu spät zum Gottesdienst erschienen oder Alchemie betrieben; Brüdermönche konnten während ihrer Arbeit unbotmäßig Beziehungen zu Frauen geführt haben.
Frauen hatten keinen Zugang zum Kloster, sie kamen nicht weiter als bis zum „Hof der Frauen“, eine Schleuse, die das Kloster von der Welt trennte. Dort waren die Wirtschaftsbetriebe des Klosters angesiedelt, die Schmiede, der Schweine- und der Pferdestall, die Kornkammer. Durch die Kreuzgänge, über Höfe, durch den Heilkräutergarten, am Waschhaus und am Friedhof und der Totenkapelle vorbei führt der Weg. Im Anschluss an den Speisesaal befindet sich die bekannte Freskenkapelle; die Wandgemälde mit Szenen aus dem Leben Jesu und Johannes des Täufers werden dem italienischen Maler Matteo Giovannetti zugeschrieben, der auch die Kapellen im Papstpalast in Avignon ausgemalt hat.
In der Mitte des Hofs steht ein Brunnenhaus mit ionischen Säulen aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert. An diesem Nachmittag herrscht dort rege Betriebsamkeit: Eine Schülerklasse steht geduldig vor den wenigen Toiletten an, während ein anderer Teil der Mädchen und Jungen mit einem Pater, der Gitarre spielt, Kirchenlieder anstimmt. Eine schöne Atmosphäre zum Abschied, wir setzen und auf eine Mauer und hören eine Weile zu. Eine seltsame Vorstellung, dass hier einst eine Gemeinschaft von vielen Menschen gelebt hat, in der doch jeder ganz isoliert in seiner eigenen Welt war.
Eigentlich wollten wir uns noch die Stiftskirche Collégiale Notre-Dame aus dem Jahr 1333 ansehen, auch sie soll einen schönen Kreuzweg haben. Aber vor dem Haupteingang steht eine Beerdigungsgesellschaft. Den Besuch verschieben wir. Auf dem Weg zurück zum Parkplatz entdecken wir noch ein paar schöne Geschäfte und eine ungewöhnliche Bäckerei, die sich auf Vollkornbrot spezialisiert hat. Es gibt also Gründe, um noch einmal wiederzukommen. Und auch der imposante Turm am Ortsausgang von Villeneuve, Tour de Philippe-le-Bel, ein Überbleibsel einer großen Verteidigungsanlage an der Brücke über die Rhône, steht noch auf unserer To-see-Liste.