L'Isle sur la Sorgue, Januar 2024

 

Wer das Leben als Reise versteht, ist immer auf einem Weg. Manchmal ist es ein Pfad, eine mit Kopfstein gepflasterte Gasse, manchmal eine mit stolzen Bäumen bewachsene sonnige Allee, manchmal ein Trampelpfad im Gras, dann wieder eine vielspurige Autobahn. Mal ist der Weg eben und gerade, mal kurvig oder steil. Es geht hinauf, es geht hinunter – und das nennt man Leben. Solche Gedanken kommen mir morgens, wenn ich mit meinem Hund meine übliche Gassirunde drehe durch den Chemin du Canal. Chemin, also Weg… aber dieser Weg erfordert höchste Aufmerksamkeit.

Der Chemin du Canal heißt so, weil er ein ganzes Stück entlang des Canal de l’Isle sur la Sorgue führt. Im Frühjahr wird das hohe Schilf, das übers Jahr an den Ufern rasant gewachsen ist, abgeschnitten und man sieht das Wasser über den Betongrund dahinfließen. Schon einige Wochen später ist alles wieder grün. Nur wenige Häuser stehen rechts oder links entlang des Chemins. Vorne am Eingang wohnt eine Familie, die eine Ferienunterkunft an Gäste vermietet, deshalb parken oft Autos mit fremden Nummern am Wegrand. Weiter hinten wohnt ein Bauer mit Schafen und drei großen Hunden, die hinter dem hohen Elektrotor jeden, der vorbeigeht, verbellen. Ein Stück danach öffnet sich die Hecke für einen Blick auf die Wiesen rund um den Bauernhof. Manchmal weiden dort die Schafe und das Pferd des Farmers.

Weg1

Vielleicht hat dieser Landwirt einen Anteil am Zustand des Weges. Mit seinen schweren Traktoren fährt er den Chemin du Canal entlang. Was so schwere Maschinen auf Asphalt anrichten, können gerade die Menschen überall im Lande – in Frankreich ebenso wie in Deutschland – beobachten, wo protestierende Landwirte mit Traktoren durch die Städte fahren und Autobahnen blockieren. Sie tun dem Straßenbelag nicht gut. Und der Zustand des Chemin du Canal kann man mit einem Wort beschreiben: katastrophal. Ohne groß zu übertreiben: Ich kenne keine Straße, die in einem schlechteren Zustand ist.

Weg2

Straße ist für diesen Weg auch schon zu viel gesagt. Der Chemin du Canal ist ein schmaler Weg, der irgendwann man asphaltiert wurde. Dann klafften die ersten Risse und Löcher im Asphalt, weitere kamen dazu. Der Weg wurde ausgebessert, die Löcher mit dunklem heißen Teer gefüllt, doch bald schon brachen neue Krater in die Decke. So scheint es Jahr um Jahr gegangen zu sein. Immer dann, wenn die Straßenbauarbeiter von L’Isle sur la Sorgue noch Reste in ihren Teerkesseln haben, scheinen sie Mitleid mit dem Chemin du Canal zu haben und schmeißen alle paar Wochen ein paar neue Schaufeln heißen Asphalts in die tiefsten Löcher. So entstand ein Flickenteppich mit den unterschiedlichsten Farben, der dennoch nicht darüber hinwegtäuscht, dass dieser Weg eine Aneinanderreihung von Abgründen ist.

Manchmal quäIen sich Autos über diese Buckelpiste. Die meisten tasten sich behutsam über die Aufs und Abs. Vom hinteren Teil des Weges kommt gelegentlich ein jugendlicher Raser mit großer Geschwindigkeit durchgeschossen und hüllt jeden Fußgänger minutenlang in eine Staubwolke ein. Mit dem Fahrrad vermeide ich die Strecke, um mein Rad und meinen Rücken zu schonen.

Weg3

Und dennoch gehe ich jeden Tag den Weg mit Freude. Das hohe Schilf zur einen Seite, die verwachsene und dornigen Hecke zur anderen geben mir das Gefühl, durch einen grünen Hohlweg zu schreiten, durch den sich an manchen Stellen die frühe Sonne mit ihren Strahlen durchbricht. Das Grün ist ein Vogelparadies ohnegleichen, häufig höre ich Spechte und manchmal einen Pirol im Sommer. Im August sind die Ranken der Hecke mit großen, saftigen Brombeeren gefüllt, die ich mir direkt in den Mund stecke.

Weg4

Es fällt mir nicht immer leicht, trotz der grünen Fülle um mich herum meine Augen auf dem Weg zu behalten. Dann lass ich mich ablenken, zum Beispiel von dem kleinen Hund, Max heißt er, der immer an dem großen Eckgrundstück des Chemins hinter dem Zaun läuft und bellt. Ich glaube, er darf nie sein Grundstück verlassen. Das letzte Mal, als ich im Gehen mit ihm kommunizieren wollte, übersah ich die Stolperfalle vor mir und bot ihm eine denkwürdige Vorstellung…, die Narben meines aufgeschürften Knies sind noch nach einigen Monaten gut zu sehen. Seither achte ich noch konzentrierter auf jeden Schritt.

Der Chemin biegt auf unsere Landstraße, und tatsächlich ist auch diese Straße, wenngleich viel größer und befahrener, nicht unbedingt in einem besseren Zustand. Die Straßendecke ist ebener, aber es gibt große Risse und der Straßenrand ist ausgefranst. Schon einige Male landete ein Auto, dass einem entgegenkommenden zu weit ausweichen wollte, im Graben.

Eine Nachbarin hat im vergangenen Sommer eine Petition gestartet mit den Unterschriften aller Anlieger, um bei den Stadtdelegierten eine Sanierung der Straße anzuregen. Irgendwann, als schon keiner mehr damit rechnete, kam eine Antwort: Unsere Landstraße genießt derzeit nicht die erste Priorität, es gibt andere Straßen, denen es noch schlechter geht. Aber unsere Straße steht nun auf der Liste. Einerseits macht das Hoffnung. Andererseits könnte auf einer glatten und ausgebauten Straße der Verkehr anschwellen, fürchten einige der Anlieger. So gesehen haben selbst die holprigen Wege des Lebens irgendwie ihr Gutes.

Der Chemin du Canal steht im örtlichen Straßenbauamt bestimmt auf keiner Liste und bleibt uns in seiner Unvollkommenheit und eigenwilligen Schönheit wohl weiter erhalten.

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