Saint-Pantaléon, Januar 2024

 

Die schönsten Geschichten fallen einem völlig unerwartet vor die Füße. Oder man stolpert über sie. Die Felsengräber von Saint-Pantaléon sind ein Beispiel dafür. An den Hinweisschildern auf die nécropole rupestre war ich schon häufiger vorbeigekommen, ohne mir darunter konkret etwas vorstellen zu können. An einem sonnigen Tag hatten wir Zeit und folgten den Schildern eher spontan bis zur Kirche von Saint-Pantaléon. Eine spannende Entdeckung.

Die provenzalische Gemeinde Saint-Pantaléon zwischen Goult und Gordes gehört zu den kleinsten in ganz Frankreich. 2020 zählte sie gerade mal 194 Einwohner. Ehe man es sich’s versieht, ist man schon hindurchgefahren. Die kleine Kirche aber ist nicht zu verfehlen. Wir parkten unser Auto am Straßenrand und kletterten die ausgetretenen Steinstufen hoch. Die Kirche aus dem 11. und 12. Jahrhundert hatte leider geschlossen. Auf dem Friedhof dahinter, umgeben von einer Steinmauer, waren ältere und jüngere Gräber, viele unter steinernen Grabplatten.

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Erst als wir um die kleine Kirche herumgegangen waren, sahen wir, wonach wir suchten: Die Steingräber waren direkt in den Felsen, auf dem die Kirche stand, gehauen. Kleine und größere Öffnungen. Eher nebenbei registrierten wir in jenem Moment die vielen kleinen Felshöhlen. An der Apsis der Kirche ist eine Inschrift in den Stein gehauen, die lautet: „HIC REQUIESCIT BONE MEMORIE LECTO + OBIIT IN CHR(ist)O. FUIT DEFUNTUS XIII K(a)L(endas) IAN(uarias)“. Die Übersetzung des Textes von dem Archäologen Jean Guyon ist auf der Erläuterungstafel darüber zu lesen. „Hier ruht in gutem Gedenken Lecto. Er starb in Christus. Er starb am dritten Tag vor den Kalenden des Januars (20. Dezember)“.

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Rund 50 Steinbestattungen, ein wenig kreuz und quer im Fels angeordnet, umfasst die Nekropole. Was diesen Ort zu einem besonderen macht, sind die vielen Kindsbestattungen. Ein erster Hinweis darauf ist wohl schon der Name des Heiligen, dem die Kirche geweiht ist: Pantaleon von Nikomedien (278-305) gilt als Schutzpatron der Ärzte, Hebammen und Ammen. Und die zu seinen Ehren geweihte Kirche galt im Mittelalter offenbar ein sanctuaire à répit. Auf Deutsch habe ich dafür verschiedene Übersetzungen gefunden: Atempause-Heiligtum, Atempause-Schrein, Verschnauf-Heiligtum, Auferweckungs-Heiligtum.

Der Name macht jedenfalls neugierig. Was damit gemeint ist, findet sich im Internet: Nach Saint-Pantaléon kamen zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert immer wieder verzweifelte Eltern, deren neugeborenes Kind vor der Taufe gestorben war. Denn zum traditionell katholischen Glauben gehörte damals die Vorstellung, dass ungetaufte Kinder nicht in den Himmel kommen können, sondern ihre Seelen für alle Ewigkeit in einem Zwischenraum zwischen Himmel und Hölle, im sogenannten Limbus, irren müssen. Eine grausige Vorstellung für die verzweifelten Eltern. Im Volksglauben existierten aber auch besondere Gnadenorte, an denen Wunder geschehen und anscheinend Unglaubliches passieren konnte: Mit Unterstützung der göttlichen Gnade und mit der Fürsprache der Jungfrau Maria oder eines Heiligen konnten die toten Kinder für einige Atemzüge noch einmal ins Leben zurückkehren, um nach einer eiligen Nottaufe als Christen im Schoß der Kirche erneut zu sterben und dann in den Himmel einzukehren, ins Paradies.

Wie das geschah? Im Beisein eines Priesters wurde zum inbrünstigen Gebet der Angehörigen der kleine Leichnam etwa mit glühenden Kohlen oder Kerzen erwärmt. Und dabei hielten die Anwesenden nach jedem Zeichen von Leben in der aufsteigenden Hitze der Kerze oder des Kohlen Ausschau. Färbten sich die bleichen Wangen dort nicht ein wenig rosa? Und die Feder, die vor die Lippen des toten Kindes gehalten wurde, hatte sie sich nicht gerade im Windhauch etwas bewegt? War das nicht ein Atemzug? Die sogenannte Atempause, die der Tod dem Kind für einen Moment schenkte? Der Säugling wurde umgehend getauft, um anschließend in geweihter Erde bestattet zu werden. In Saint-Pantaléon wurden den Kinder, die eine Atempause erhalten hatte, eine besondere Ecke des Friedhofs gewidmet – in Felsengräbern.

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Und die Eltern hatten ihren Seelenfrieden wiedergefunden. Denn, so wird die Historikerin Marie-France Morel beim Stichwort „Sanctuaire à répit“ bei Wikipedia zitiert: „Jedes Kind, das vor dem siebten Lebensjahr getauft wurde, hatte keine Sünde begangen und seine Seele ging direkt in den Himmel. Als Engel, der Gott nahesteht, konnte es seinen Eltern das Heil bringen.“ (deutsche Übersetzung)

Saint-Pantaléon ist kein Einzelphänomen, vom Ende des 13. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg gab es in Westeuropa viele Wallfahrtsorte dieser Art, allein 277 in Frankreich. Nicht immer war der Pilgerort eine Kirche. So finden sich auch historische Zeugnisse für diese Praxis am Grab des französischen Kardinals Peter von Luxemburg in Avignon.

Die Vorstellung vom Limbus, in der ungetaufte Kinder für alle Ewigkeit bleiben müssen, hat der Vatikan erst vor 17 Jahren abgeschafft: Am 20. April 2007 erklärte die Internationale Theologische Kommission der römisch-katholischen Kirche, dass die Vorhölle eine unzulässig eingeschränkte Sicht der Erlösung widerspiegelt und nicht als "Glaubenswahrheit" betrachtet werden könne.