Sainte-Maximin-la-Sainte-Baume, September 2023
Sie ist Heilige, Sünderin, Prostituierte und Büßerin, Jüngerin Jesu, seine Gefährtin, seine Geliebte, Zeugin seiner Kreuzigung, seines Todes und seiner Auferstehung – von kaum einer biblischen Figur existieren so viele unterschiedliche, gegensätzliche Bilder wie von Maria Magdalena. Seit frühester Zeit ranken sich die Legenden um sie. Dass die Frau aus dem Dorf Magdala am See Genezareth ihren Lebensabend in Südfrankreich verbrachte, ist eine französische Variante dieser Heiligenerzählungen. Demnach liegen ihre sterblichen Überreste in der Provence begraben, in Saint-Maximin-la-Sainte-Baume.
Die nach ihr benannten Basilika Sainte Marie-Madeleine überragt das kleine provenzalische Städtchen schon von weitem. 40 Kilometer hinter Aix-en-Provence gelegen, ist das größte gotische Bauwerk der Region bereits von der Autobahn A8 zu sehen. Zwischen 1295 und 1532 errichtet, wurde die Kirche nie vollendet, weder Portal noch Glockenturm sind vorhanden. Und doch staunt man, wenn man den wuchtigen Bau hinauf in die Sonne schaut. Zu dieser stillen Mittagsstunde ist der Kirchenvorplatz kaum belebt.
Drinnen ist es noch stiller und dunkel. Der Innenraum ist dreischiffig. Der Chorraum vorne wird durch eine helle Plane verdeckt, die Stuckdekoration aus dem 17. Jahrhundert und die 94 Chorstühle aus geschnitztem Nussbaumholz werden derzeit restauriert. Auch der Altar aus dem 16. Jahrhundert mit 16 Tafeln zur Leidensgeschichte Christi von Antoine Ronzen ist nur als Kopie zu sehen. Die große Orgel von 1173 hat rund 3000 Pfeifen und soll zu den Schönsten des Landes zählen, aber das zu beurteilen, fällt mir schwer.
Doch wer in diese Basilika kommt, will vor allem eins: in die Krypta. Obwohl nicht groß, ist sie das Herz der Kirche. Einige Stufen führen hinab, vorbei an einer schönen Skulptur der Heiligen. An den grauen Steinwänden haben unzählige Besucher ihre Kritzeleien hinterlassen. Dann stehen wir in einem dunklen Raum, rechts und links hinter Gittern sind Sarkophage zu erkennen, und im Licht hinter dem vorderen Gitter erstrahlt ein goldener Reliquienschrein, umgeben von goldenen Engelsfiguren. Die Menschen drängen sich vor dem Gitter, jeder mit seinem Handy in der Hand für ein paar Fotos.
Der Anblick dieses Reliquienschreins ist jedoch unerwartet und wohl auch deshalb erschreckend. Unter einem goldenen Helm, eingeschlossen in einer gläsernen Kapsel, starrt uns astronautenhaft ein Schädel mit leeren Augenhöhlen entgegen. So jedenfalls hat man sich die Heilige nicht vorgestellt. Eine Kristallröhre ist am unteren Ende des Reliquienschreins versiegelt. Darin soll sich ein kleiner Fetzen Fleisch oder Knochengewebe befinden. Ist das der Schädel von Maria Magdalena?
Der Legende nach wurden ihre Gebeine 1279 an der Stelle der heutigen Basilika entdeckt. Nach dieser Erzählung ist Maria Magdalena nach dem Kreuzestod Jesu mit einigen Gefährten in einem Floß über das Mittelmeer geflüchtet, mit an Bord waren angeblich ihre Schwester Martha, Maria des Kleophas, Marie Salome, Lazarus, der Bruder von Maria von Bethanien, und die Dienerin Sara. In Frankreich, in Saintes-Maries-de-la-Mer, gingen die Marien von Bord. Von dort aus soll Maria Magdalena die Provence missioniert haben, bevor sie 30 Jahre lang als Eremitin ein Leben in Buße in einer Grotte im Massif de la Sainte-Baume verbrachte. Die Grotte liegt etwa 25 Kilometer südlich von Sainte-Maximin-la-Sainte-Baume und ist hier das andere große Ziel von Pilgern auf den Spuren der Heiligen. Nach ihrem Tod sollen Engeln sie an den heutigen Ort ihrer Reliquie gebracht haben. Als ihr Sarg 1279 geöffnet wurde, verströmte darauf laut Augenzeugen ein wunderbarer Duft von Rosen und Parfüm.
Aus historischer Sicht dagegen scheint ihr Aufenthalt in der Provence eher fragwürdig zu sein. Denn auch die schöne romanische Kirche Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay im Burgund rühmte sich im Mittelalter, im Besitz der Reliquie zu sein. Nach anderen altüberlieferten Berichten begleitete Maria Magdalena einige Jahre nach der Auferstehung den Apostel Johannes nach Ephesus und starb dort.
Wer auch immer die Frau war, die uns aus den leeren Augenhöhlen ihres Schädels nachsieht, sie rührt mich. Ihr Schädel, entblößt vor allen Blicken, sieht so schutzlos und verletzlich aus. Diese Art der Heiligenverehrung erscheint so ohne Glanz und Würde… Als wir wieder draußen in der Sonne stehen, müssen wir uns unwillkürlich schütteln. Nein, heilig werden ist nichts, was man in diesem Leben anstreben sollte.