Fête des voisins, L'Isle sur la Sorgue, Juli 2023
Wer kennt schon alle seine Nachbarn? Rechts und links von uns die beiden älteren Ladies, ja, mit denen teilen wir nicht nur die Ernte aus unseren Gärten, sondern auch so manches Abendessen. Aber von dem Haus ein bisschen weiter die Straße runter sehe ich immer nur die beiden Hunde, die durch die Sichtschlitze der Mauer gucken. In dem großen verwilderten Grundstück gegenüber bellt ein kleiner Hund, und manchmal huscht eine ältere Frau durch die Büsche, die schüchtern grüßt. Dort gegenüber wohnt ein ehemaliger Lastwagenfahrer, der nun in Rente ist, ein großer kantiger Mann, der viel im Garten arbeitet und mich schon bei meinem ersten Spaziergang in ein Gespräch verwickelte. Er hat früher vor allem Joghurt transportiert und war mal Lastwagenfahrer des Jahres, und unter uns nennen wir ihn auch so, Er liebt seinen Garten über alles, ebenso wie seine zierliche kleine Frau, an deren wohl prononciertem Französisch ich mich immer erfreue.
Nun hatte unsere Nachbarin J. im Haus zur rechten eine Idee: Warum nicht alle Anwohner zu einem Nachbarschaftsfest einladen? Das fête des voisins hat in Frankreich schon seit mehr als 20 Jahren Tradition, viele Millionen Franzosen feiern es am letzten Freitag im Mai, nachdem ein Pariser Stadtrat kurz vor der Jahrtausendwende das erste Fest in seinem Quartier auf die Beine gestellt hat. Der Anlass war eine Zeitungsmeldung über eine alte Dame in Paris, die wochenlang tot in ihrer Wohnung gelegen hatte, ohne dass sie jemand vermisst hatte. Das Bestreben, die Einsamkeit und Angst in der Großstadt-Anonymität mit Begegnung und Nachbarschaftshilfe entgegenzuwirken, zog Kreise und hat längst über alle Stadtgrenzen hinweg in vielen anderen Ländern als „European Neighbour’s Day“ Anhänger gefunden.
Wie kam unsere Nachbarin darauf? Ihre Schwester habe in diesem Jahr so ein Nachbarschaftsfest organisiert, es sei großartig gewesen, erzählt sie. Vielleicht war es der schwesterliche Wettstreit, der sie nun verleitete, es ihr nachzumachen. Der traditionelle Termin war schon verstrichen, aber Nachbarschaftsfeste kann man ja das ganze Jahr feiern. Das unsere fand also zwei Monate später, im Juli, statt. Unsere Nachbarin J. hatte bunte Einladungen geschrieben und in den Briefkästen der Nachbarn verteilt. Nicht in alle, nur in denen, die ihr behagten, könnte man sagen. Die Nachbarn auf ihrer anderen Gartenseite, die mit ihren vielen Hunden immer mal wieder für Lärm sorgen, bekamen jedenfalls keine und ebenso nicht die drei jungen Männer, die wohl als WG kürzlich in das kleine Haus am Kreisverkehr gezogen sind. Mit jeder Einladung verbunden war die Bitte um Rückmeldung und um eine Info, welchen Beitrag der jeweilige Gast zum Büfett mitzubringen gedenke.
Es ist aber doch ein Unterschied, ob man in einem großen Wohnblock wohnt, in einem Stadtquartier mit vielen Nachbarn oder auf dem zersiedelten Lande, wo jeder den Himmel in ganzer Größe um sein Haus bewundern kann. Jedenfalls war der Rücklauf spärlich und die Stimmung von J. sank mit jedem Tag des Wartens. Sie wollte das Fest schon wieder absagen. Am besagten Abend waren wir dann doch zu zehnt. Wir brachten einen großen Nudelsalat mit und kleine LED-Lampen, die wir auf dem langen Tisch im Garten von J. verteilten. Wahrscheinlich brauchten wir sie nicht, weil alle noch bei Tageslicht nach Hause gehen würden – ja, unsere Erwartungen an diese nachbarschaftliche Runde waren auch nicht gerade groß.
Nach und nach trudelten alle Gäste ein. Ein Nachbar brachte einen selbstaufgesetzten Likör mit, der gleich als erstes die Runde machte. Als letzte kam der Lastwagenfahrer und seine Frau mit einer halben Stunden Verspätung. Die beiden setzten sich in die Mitte der Tafel – und bildeten fortan auch den Mittelpunkt der Kommunikation. Zur Begrüßung gab es einen Kir – ein Glas Weißwein mit Cassislikör. J. verteilte die Gläser und alle prosteten sich fröhlich zu. Der Cassislikör hatte eine seltsame Farbe, bräunlich, und die Mischung schmeckte schal. Merkwürdig, bemerkte selbst J. Eine andere Nachbarin begutachtete die Flasche mit dem Cassislikör: Die sei über 20 Jahre alt, vielleicht ein bisschen abgestanden oder umgekippt? Alle tranken tapfer aus.
Sinn und Zweck eines Nachbarschaftsfestes ist natürlich, gemeinsam mit den Menschen, die nahe beieinander wohnen, einige gesellige Stunden zu verbringen. Und dazu gehört in allen Kulturen, ein gutes Essen miteinander zu teilen. Eine Nachbarin kam mit Kuchen und kleinen Croissants, gefüllt mit Oliven oder Käse. Es gab verschiedene Vorspeisen, Zucchinipuffer, eine Quiche und eine provenzalische Pissaladière, eine Art Zwiebelpizza mit Sardellen. Aber irgendwie muss die Vorabsprache nicht richtig funktioniert haben: Am zahlreichsten waren die Kuchen zum Dessert, darunter zwei Bananenkuchen, ein Rührkuchen und J.s berühmte Sakristans, provenzalische Blätterteigstangen mit Mandeln. Aber bis wir beim Dessert ankamen, war es tatsächlich schon dunkel geworden. Und weil ja alle höflich sein wollten, musste natürlich jedes Gericht gekostet werden.
Und natürlich wurde beim Essen übers Essen geredet. Dabei tat sich der Lastwagenfahrer besonders hervor. Die Zubereitung der Quiche, die er höchstpersönlich zubereitet hatte, schilderte er in allen Einzelheiten und Details, um sich danach dem Bananenkuchen-Rezept zu widmen. Dann wurde es allgemeiner, das Gespräch drehte sich um allgemeine Vorlieben des Monsieurs und seiner Frau. Gemerkt haben wir uns die Bratkartoffeln mit Salbei, die werden wir nachmachen. Ein Genuss… c’est vraiment delicieux …! – der Nachbar küsste seine Fingerspitzen.
Nach geschätzt gut zwei Stunden mit Rezeptvorschlägen und Kochtipps kam ein neues Thema auf den Tisch: die Knieoperation, die der Lastwagenfahrer vor einigen Jahren über sich ergehen lassen musste. Anlass genug für die gesamte Nachbarschaftsrunde, eigens durchlebte Krankengeschichten zum Besten zu geben oder ganz allgemein über Krankengeschichten zu philosophieren. Dabei wurde allgemein ordentlich dem Wein zugesprochen, es wurde fröhlicher und ausgelassener, und als jemand bemerkte, dass doch heute kaum noch Witze erzählt würden, übertrumpften sich die ausgelassenen Nachbarn mit Witzen, die, je länger der Abend dauerte, auch schon mal ein wenig schlüpfrig wurden.
Kurz nach eins erhoben sich der Lastwagenfahrer und seine Frau. Das war das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch. Doch bevor das Ehepaar sich aufmachte, um mit seiner Taschenlampe nach Hause zu leuchten, verkündete der Nachbar in die Runde: „Das kann man ausbauen. Nächstes Jahr bei uns!“ Beifälliges Gemurmel. Die Verabredung steht. Und der Anfang war doch schon mal gut gelaufen, fand nicht nur unsere Nachbarin beim Aufräumen zufrieden. Also dann: weiterhin auf gute Nachbarschaft!