Le Beaucet,  Juli 2023

 

Der Wolf ist wieder da. Nicht nur in Märchen und Geschichten, sondern ganz real. In Frankreich war er seit den 1930er Jahren ausgerottet, nun ist er wieder heimisch. An die 600 Wölfe sollen es inzwischen landesweit sein. Und mit ihnen kommen uralte Ängste der Menschen wieder hoch. 11 000 gerissene Schafe wurden 2017 gezählt. Schäfer protestieren, die ersten Wölfe dürfen deshalb schon wieder abgeschossen werden. Eine ewige Geschichte. In der Provence verbindet sich die historische Erinnerung an den Wolf auch mit der legendären Geschichte eines Volksheiligen: Saint Gens. In dem kleinen Bergdorf Le Beaucet ist der Volksheilige allgegenwärtig.

Le Beaucet ist ein Dorf aus Stein, gebaut auf Fels und umgeben von kargen Kalkbergen. In den Felsunterständen und Höhlen fanden Archäologen Feuersteine und Brandgräber aus der Jungsteinzeit, 6000 bis 4000 v.Chr. Der kleine Ort wurde seit dem 11. Jahrhundert von einer mächtigen Burg überragt. Ihre restaurierte Ruine ist heute noch eindrucksvoll, der steile, 700 Meter lange Weg hinauf lässt den Besucher in der Sommerhitze schwitzen. Der Blick von dort oben über das weite Land lohnt sich allemal.

Burghoch

Viele Namen erinnern in Le Beaucet an die einstige Anwesenheit des Wolfes: Lou, Fontaine de la louve (Brunnen der Wölfin), der Weg hinauf zum Schloss heißt chemin de l'alouette, Weg der Lerche, aber auch eine Abwandlung von louvette – die Wölfin. Knapp 300 Einwohner leben auf diesem Felsen – es ist still und menschenleer in den schmalen Gassen. Der kleine Lebensmittelladen ist geschlossen, dafür ist die Kirche St. Etienne aus dem 12. Jahrhundert geöffnet, eine Statue von Saint Gens unter der Kuppel blickt dort dem Besucher entgegen.

BlickTal

Das Tal, das sich vor Le Beaucet öffnet, ist nach Saint Gens benannt. Gens Bournareau (oder Bournarel) soll Anfang des 12. Jahrhunderts, vielleicht im Jahr 1104, im benachbarten Monteux als Bauernsohn geboren worden sein. Er erhielt den Vornamen „Gens", was im Provenzalischen „schön wie ein Sonnenstrahl" bedeutet. Der Legende nach war er Kuhhirte und sehr fromm. Und er wetterte gegen die heidnischen Praktiken seiner Mitbürger: Als diese in einer Prozession zum Erzengel Raphael um Regen beteten und deshalb eine Statue des Erzengels in einen Bach tauchten, zerschlug Gens die Statue und wurde dafür von den Einwohnern von Monteux mit Steinen vertrieben. Der Sage nach wurden sie dafür bestraft: Der Regen blieb dort für drei Jahre aus.

Saint Gens jedenfalls flüchtete aus Monteux mit seinen zwei Kühen und einem Pflug. Im felsigen und einsamen Tal von Le Beaucet ließ er sich nieder. Heute ist der Weiler, drei Kilometer von Le Beaucet entfernt, nach ihm benannt: l’Ermitage Saint-Gens. Ebenso die Kirche Saint-Gens, sie ist heute geschlossen. Schade. Darin soll sich der Reliquienschrein mit seinen Gebeinen befinden: Ziel der jährlichen Prozessionen der Bruderschaft von Saint-Gens-de-Monteux. Den Trubel, der dann dort herrscht, kann man sich an diesem Sommertag kaum vorstellen. Heute ist es der einsamste Ort, wie aus der Welt gefallen.

BlickTal

Die Zikaden zirpen, Steineichen und Oliven dörren in der Sonne. Saint Gens bestellte dort ein kleines Stück Land, seine Kühe zogen ihm den Pflug, so die Sage. Und nun kommt der hungrige Wolf ins Spiel: Er tauchte plötzlich auf, als Gens im Gebet versunken war, und fraß eine der beiden Kühe. Doch Gens gelang es, ihn zu fangen, er zähmte ihn und spannte ihn neben der anderen Kuh vor den Pflug. Auf vielen Darstellungen ist er deshalb mit dem Pflug, der Kuh und dem Wolf zu sehen. Isegrim, so will es die Legende, wurde sein treuer Diener, der ihm loyal folgte.

Felsen

Ein Wunder - sein erstes. Das zweite folgte, als Gesandte aus seinem Heimatdorf ihn gemeinsam mit seiner Mutter ausfindig machten, um ihn zur Rückkehr zu überreden. Als seine durstige Mutter ihn um etwas Wasser bat, begann unter seiner Hand aus dem Felsen eine Quelle zu fließen.

Quelle

Sie fließt heute noch, die Wunderquelle. Von der Kirche aus erreicht man sie über einen steinernen Weg hinauf, an stacheligen Sträuchern und Steineichen vorbei. Das kleine Rinnsal ergießt sich direkt aus dem Felsen. Weiter hinten in der kleinen Felshöhle ist eine Figur von Saint Gens zu sehen, Rosenkränze hängen herunter. Eine kleine Madonnenfigur, Kerzen, Kreuze, Porzellanblumen, ein Holzkreuz, aus zwei Zweigen gelegt, mit dem Passfoto eines jungen Mannes: Zeugnisse der Pilger, die zur Quelle kommen, denn das Wasser soll Fieber, körperliche und geistige Beschwerden heilen. Der Ort hat eine eigene Magie. In einem Baumstamm neben der Quelle hat jemand sorgfältig eine Schildkröte geritzt. Dahinter blüht ein Rosenstrauch, eine ungewöhnliche Blume an dieser Stelle.

Schildkörte

Saint Gens kehrte mit seiner Mutter nach Monteux zurück und wurde dort gefeiert für seine Wunder, und mit seiner Rückkehr begann es endlich auch dort wieder zu regnen – das war, so die Legende, sein drittes Wunder. Es gibt keine historischen Dokumente aus der Zeit vor dem 15. Jahrhundert über das Leben von Saint Gens. Aber Legenden wurzeln ja oft in einer wahren Begebenheit. Die Felsquelle jedenfalls hat schon vor seiner Zeit existiert und wurde Forschungen zufolge bereits in einem alten heidnischen Kult verehrt. Der schöne Gens wurde niemals von der Kirche heiliggesprochen, aber von den Provenzalen wurde er schon bald nach seinem Tod als solcher verehrt.

Der Sage zufolge starb er in seinem einsamen Felsental. Dorthin zurückgekehrt war er schon gleich nach seiner Heimkehr nach Monteux, denn er hatte sich an das Leben eines Einsiedlers gewöhnt. Viele Jahre sind ihm dort wohl nicht mehr geblieben. Er starb friedlich mit 23 Jahren am 16. Mai 1127. Der Volksmund berichtet, dass der Wolf durch sein Geheul den Tod seines Herrn vermeldete und dass er vor Kummer an seinem Grab gestorben sein soll. Die Versöhnung von Mensch und Wolf... eine wirklich sagenhafte Geschichte.

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