Die Begegnung mit einem kleinen Distelfink, September 2018

 

Am Morgen liegt er im Gras. Ein kleines Knäuel, der Hals merkwürdig verrenkt. Ein Jungvogel, der aus dem Nest gefallen ist. So hilflos, der Körper pumpt das kleine Leben angestrengt durch sich hindurch. Hat er sich das Genick gebrochen? Wir können ihn doch nicht so liegen lassen.

Der Naturschutzbund warnt davor, Vogelkinder, die scheinbar aus dem Nest gefallen sind, aufzunehmen. Häufig sind die Jungvögel gar nicht hilflos, sondern nur flugunfähig, doch sie stehen über Bettelrufe mit den Eltern in Verbindung und werden von ihnen am Boden versorgt. Und wenn sie doch verletzt sind, dann soll es wohl so sein. C’est la vie: Gerade geschlüpfte Vögel und Jungtiere sind die Nahrungsgrundlage für viele andere Tiere. Nicht mal jeder fünfte Sperling wird ein Jahr alt, schreibt der Nabu. 

Flori2

Aber da ist es schon zu spät. Da hatten wir den kleinen Vogel schon hochgehoben und in unser Herz geschlossen Wir bauen ihm in ein Nest aus Holzwolle. Als Schutz vor Katzen setzen wir das Nest in einen Wäschekorb und in den Schatten. Wir schauen staunend hinein. Und wir geben dem kleinen Findling einen Namen: Flori. Eine kleine Muschel füllen wir mit Wasser und legen ein paar Samen und etwas Brot dazu, das wir zwischen den Fingern zu sehr kleinen Krümeln zerreiben. Später kochen wir ihm ein Ei und verrühren es zu einem weichen Brei. Wir halten ihm kleine Eistückchen an den Schnabel, aber er öffnet ihn nicht. Da haben wir schon so ein schlechtes Gefühl. Denn eigentlich hätte er großen Hunger haben müssen. 

Immerhin: Floris Genick ist nicht gebrochen. Und nach ein paar Stunden hat er sich schon wieder ganz gut gemacht, finden wir. Er reckt sich und plustert sich auf, so dass wir seine gelben Streifen im Gefieder sehen können. Ein Distelfink! Er hüpft sogar aus dem Nest in den Wäschekorb. Nachmittags beginnt er zu piepsen. Seine kleinen schwarzen Augen starren uns an. Sein Körper atmet. Und wir sind voller Hoffnung.

Flori

In der freien Natur hat ein Distelfink, auch Stieglitz genannt, eine Lebenserwartung von fünf Jahren. Wenn das Leben für ihn gut läuft. Floris kleines Herz hat gerade erst zu schlagen begonnen. Vielleicht ist er vor zwei Wochen aus dem Ei geschlüpft. Wichtig ist, dass er die Nacht übersteht, denken wir und stellen ihn geschützt und warm. Doch am Morgen liegt er in seinem Nest auf der Seite, still, kalt. 

Flori. 

Wir begraben ihn am Feldrand unter einer Eberesche. Ich muss dabei an den kleinen Prinzen denken, an die Rose und an das, was der Fuchs zum Prinzen sagte. „Du darfst nie vergessen: Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ Also, Flori, tschüss. War schön, dich kennengelernt zu haben. Wenn’s auch nur für einen Tag war. So ist eben das Leben. 

Im Radio läuft wenig später Billy Joel, er singt, „we said we’d all go down together“, und da muss ich mir doch eine Träne wegdrücken.

 

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