Im Camp des Milles, April 2023

 

Vielleicht ist es ein zutiefst menschliches Bedürfnis, sich seiner selbst und seines Standortes zu vergewissern. Zu markieren: Ich war hier. Etwas zu verewigen, was noch bleibt, wenn man selbst nicht mehr ist. Und so kratzen Menschen Namenskürzel in Schulbänke, sprühen Graffitis in S-Bahn-Tunnel und ritzen Herzen in Baumrinden. Ein Herz hat auch jemand an die Wand in einer alten Ziegelei im französischen Ort Les Milles gekratzt. Eine von vielen Spuren, die sich dort noch auf den Wänden finden.

Dieses Herz habe ich vor Augen, wenn ich an unseren Besuch in Les Milles denke. Und ich denke an die staubigen, dunklen Kellergänge. Und an die Sicherheitskontrolle. Denn ohne die kommt man nicht hinein: Wie am Flughafen müssen die Besucher in einem separaten Glaskasten am Eingang die Taschen durchleuchten lassen und eine Sicherheitsschranke durchschreiten. Warum so viel Aufwand, frage ich den Mann, der mir meine Tasche zurückgibt. Aus Angst vor antisemitischen Aktionen, sagt er.

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Dann erst dürfen wir das ehemalige Internierungs- und Deportationslager betreten, das seit 2012 eine Gedenkstätte ist. In der Ziegelei in einem Vorort von Aix-en-Provence erloschen 1937 die Brennöfen. Zwei Jahre später wurde der rötliche Klinkerbau mit einer Madonna unter dem Giebel umfunktioniert: Zunächst in ein Internierungslager für unerwünschte Personen. Vor allem deutschsprachige Ausländer, die sich vor den Nazis nach Frankreich geflüchtet hatten, wurden dort einquartiert, bis zu 3000 gleichzeitig. Viele deutsche und österreichische Intellektuelle, Wissenschaftler, Maler, Schriftsteller, Journalisten, Musiker, bekannte und weniger bekannte, waren in Les Milles. Golo Mann zum Beispiel, Max Ernst, Franz Hessel; der Schriftsteller Walter Hasenclever nahm sich dort das Leben. Allein rund 40 Maler befanden sich unter den Gefangenen.

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Das Innere des vierstöckigen Backsteingebäudes ist ein Labyrinth aus verwinkelten Gängen. In den niedrigen düsteren Kellergängen unter den Brennöfen lagen die Strohmatten, auf denen die Gefangenen schliefen, es gab nur zwei Toiletten. Sonnenstrahlen fielen dort durch die Ritzen der Türverschläge. Staubig ist der Boden immer noch. Feiner Tonstaub durchzieht das ganze Gebäude, genau wie vor 70 Jahren. Und überall finden sich Spuren der Gefangenen.

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Sie mussten im Lager nicht arbeiten. Der Alltag bestand aus Warten und der Hoffnung, den Deutschen doch noch zu entkommen. Doch die Umstände, unter denen sie in Les Milles lebten, waren bedrückend. „Überall waren Trümmer und Staub von Backsteinen, selbst in dem wenigen, das man uns zu essen gab“, erinnerte sich später Max Ernst an seine Zeit in Les Milles. „Ziegelstaub füllte unsere Lungen, entzündete unsere Augen“, schrieb Lion Feuchtwanger in seinem Erinnerungsbuch „Der Teufel in Frankreich“.

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Den Gefangenen gelang es dennoch, im Lager eine Art kulturelles Leben zu gestalten. Es gab Theater- und Kabarettdarbietungen. Davon finden sich viele Spuren: Zeichnungen auf Betonbalken, ein eingeritzter Davidstern, Blumendekors, eine Theatermaske. „Die Katakombe“ steht über einer Kellertür: Dort wurde das legendäre Berliner Kabarett „Die Katakombe“ wieder lebendig, die von Goebbels 1935 verboten worden war. Im Zuge der 18 Millionen Euro teuren Restaurierung konnten die großen anonymen Wandmalereien im Speiseraum der Wachleute freigelegt werden, die wohl im Auftrag der Lagerverwaltung entstanden. Am bekanntesten: das „Bankett der Nationen“, das dem österreichischen Maler Karl Bodek zugerechnet wird, es zeigt Menschen aller Völker friedlich tafelnd an einer Festtafel. Bodek starb 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau.

Die ständige Ausstellung in Les Milles erzählt von den Menschen, die im Lager gelebt haben, und von ihrem Alltag. Von dem Geisterzug, den der Lagerkommandant 1940 auf den Weg schickte, um 2000 Gefangene vor den herannahenden deutschen Truppen in Sicherheit zu bringen Die Gefangenen gelangten bis nach Bayonne am Atlantik, wo sie – durch eine Verkettung von Missverständnissen - jedoch umkehren mussten. Das Camp Les Milles soll heute auch eine Bildungsstätte sein, die jungen Menschen vermitteln will, wie normale Menschen zu Henkershelfern werden können. In den Schulen der Region scheint dieses Angebot gerne angenommen zu werden: Außer uns waren an diesem Vormittag nur mehrere Schülerklassen in der Gedenkstätte unterwegs.

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Die Sonne der Provence blendet uns, als wir nach dem Rundgang durch die dunklen Gänge wieder auf den Hof treten. Von dort sind es nur wenige Schritte bis zu dem Bahngleis, an dem ein Waggon steht: Er erinnert an die Deportation von 2000 Frauen, Männern und Kindern. Das ist das traurigste Kapitel des Lagers, denn nachdem es von Juni 1940 bis Juni 1942 von der französischen Polizei geführt worden war, die vor allem Regimegegner und Ausreisewillige dort internierte, waren ab August 1942 Juden in Les Milles inhaftiert. Am 11. August verließ der erste Transport jüdischer Häftlinge das Lager in Richtung Drancy, dem zentralen Durchgangslager bei Paris. Von dort aus führten regelmäßige Konvois der SS in das Vernichtungslager Auschwitz. Von den 2000 Gefangenen, die bis September 1942 aus Les Milles verschleppt wurden, waren viele Kinder unter 16 Jahren.

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Einer der zehntausend Menschen, die in Les Milles gefangen waren, hat ein Herz auf die Wand gemalt. Es ist nicht groß, unscheinbar, mit einem Pfeil durchbohrt und trägt eine Inschrift: „La liberté. La Vie. La paix“ – die Freiheit, das Leben, der Frieden. Drei unpersönliche Worte, die der Nachwelt doch alles verraten über die Träume und Sehnsüchte eines Menschen, der sich dort zwischen 1939 bis 1942 verewigte.

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