Cancale, September 2022

 

Grau in Grau und irgendwie englisch sieht Cancale an einem trüben Regentag aus. Granitgraue Häuser ducken sich unter den tiefen Wolken und graubemäntelte Menschen eilen durch den Regen. Dennoch ist an diesem trüben Septembertag kaum ein Parkplatz frei. Der Port de la Houle, der Hafen, wird bei schönem Wetter als romantisch beschrieben, heute würde man das nicht so sagen. Das Meer hat sich versteckt, bis weit hinaus zum Horizont liegen die Schiffe auf Grund. Doch die Austern-Hauptstadt der Bretagne hat selbst bei diesem typisch bretonischen Wetter besondere Schätze, die einen Besuch lohnenswert machen.

Cancale liegt östlich von Saint-Malo, im Nordwesten der Bucht des Mont-Saint-Michel. Die bekannte felsige Insel mit ihrer Abtei soll bei schönem Wetter sogar von Cancale aus zu sehen sein. Aber wie gesagt: bei Regen nur trübe Aussichten. Und bei Ebbe kein Wasser. Dafür präsentieren sich die Schätze des Ortes in ihrem ganzen Ausmaß. Direkt hinter der Brandungsmauer stehen im Schlick die Gestelle, die Austernparks, die den Ruhm der Stadt begründen. Dort wachsen in Säcken die Austern, für die Cancale 1994 sogar zum Ort des außergewöhnlichen Geschmacks ernannt wurde. Bis zu drei Kilometer weit reichen die mit Algen bewachsenen Zuchttische in die Bucht.

Austernesser

Früher fuhren die Männer von diesem Hafen aus zur See, dort legten die Schiffe nach Kap Hoorn ab und nach Neufundland, wo sich vor allem Dorsche in den Netzen der Fischer verfingen. Heute fahren die Austernproduzenten mit Treckern ins Watt, um die Austernsäcke zu wenden oder die Austern zu ernten. Schon seit dem 13. Jahrhundert ist der bretonische Ort für seine Austernzucht bekannt. König François I. hat sich extra aus Cancale die jodhaltigen Köstlichkeiten an den Hof in Versailles schicken und verlieh dem Ort zum Dank 1545 die Stadtrechte.

Rund 5000 Tonnen scharfkantige Felsenaustern (huîtres creuses) und 1000 Tonnen Plattaustern (huîtres plats) werden jährlich in Cancale geerntet. Das ist ein Viertel der französischen Austernproduktion. Das Dorf mit rund 5200 Einwohnern lebt inzwischen von den Touristen, die kommen, um die Austern direkt aus dem Meer auf den Teller zu genießen.

Austernstand

Entlang des Hafens reiht sich ein Restaurant an das nächste und lockt mit Austernplatten. Austern, so heißt es hier, sind in Cancale kein Luxus. Wer diese besonderen Muscheln auf die frischeste Art und Weise genießen möchte, geht bis zum Ende des Hafenbeckens. Dort stehen die Holzhütten der Austernhändler, in denen die Verkäuferinnen, beschürzt, mit Gummistiefeln und Austernhandschuhen, ihre Kostbarkeiten anbieten. Es gibt Austern in allen Varianten, hohle, flache, wilde, große, mittlere und kleine, zu allen möglichen Preisen, die aber – vergleichen mit den normalen Verkaufspreisen – unschlagbar günstig sind.

Austernteller

Mit dem Austernmesser knacken die Verkäufer gekonnt die Muscheln und schichten sie auf die Plastikteller. In die Mitte legen sie eine halbe Zitrone. Zur Degustation fehlt nur noch Brot und Weißwein. Das eine, gebutterte Brote, gibt es an einem Imbissstand, in dem sich auch ein Kebabspieß dreht. Für den Wein sorgt ein mobiler Verkaufswagen, Plastikbecher mit Pfand inklusive.

MöweninAustern

An sonnigen Tagen setzen sich die Besucher einfach auf die Stufen der Brandungsmauer und genießen den Blick über den Hafen. An diesem Regentag freuen wir uns über zwei freie Plätze an einem Tisch, an dem schon vier Franzosen ihre Austernmahlzeit genießen. In Höchstgeschwindigkeit leeren sie die Teller, und die Schalen werfen sie anschließend einfach über das Gelände der Mole. Dort liegen schon unzählige leergeschlürfte Austernhälften - ein gefundenes Fressen für die Möwen, die noch die letzten kleinen Reste aus den perlmuttfarbenen Gehäusen picken. Für die Zitrone gibt es neben dem Austernmarkt eine extra ausgewiesene Zitronen-Müllbox. So funktioniert Abfalltrennung in Cancale, informiert ein Schild die Besucher.

Zitronenbox

Und so machen wir es denn auch. Einige Tropfen Zitrone auf die Muschel, dann vorsichtig das Fleisch aus den scharfkantigen Schalen herausschlürfen und ein bisschen im Mundraum kreisen lassen. Während der Regen in den Austernteller tropft, ist auch unser Teller schnell geleert. Die Austern schmecken frisch, nach Meerwasser, nach Salz. Ein bisschen nussig vielleicht. Bilde ich es mir ein, liegt es an dem besonderen Ambiente? Ich bin mir sicher: Noch nie haben mir Austern so gut geschmeckt!

Was macht die Austern von Cancale so besonders? Die geschützte Lage der Bucht, das milde Klima, das kühle Wasser, so ist zu lesen. Und der Tidenhub, einer der größten der Welt. 15 Meter beträgt die Differenz zwischen Ebbe und Flut, bis zu 15 Kilometer zieht sich das Wasser zurück. Umso frischer und sauerstoffreicher ist die Nahrung, die die Austern mit der zurückkehrenden Flut aus dem Atlantikwasser filtern. Der stete Rhythmus der starken Gezeiten wiegt die Muscheln und lässt sie zu besonderen Spezialitäten heranwachsen. Und die kann man sogar genießen, wenn der bretonische Regen seine Würze dazugibt.

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